Sonntag, 9. April 2017

Lob der Autorität

Angelina ist überzeugt, dass sie krank ist. Dyskalkulie lautet die Diagnose, mit der die Achtklässlerin zu Kinderpsychiaterin Elke Möller-Nehring in Erlangen ­geschickt wurde. Das Mädchen leidet an Ängsten, will nicht mehr in die Schule gehen, weil es glaubt, seine Defizite sowieso nicht mehr aufholen zu können. Vom Gymnasium wechselte sie auf die Realschule – doch das Grundproblem blieb. „Was Angelina fehlt, ist die kleinschrittige Anleitung, wie sie zu Lösungen kommt“ sagt Medizinerin Möller-Nehring. „Eigentlich lernt man das in der Grundschule.“
 Ihre Beobachtung: Seit dem deutschen ­PISA-Schock findet das Einüben von Lerntechniken offenbar immer weniger statt. Freiarbeit ist angesagt und selbstständiges Lernen. Die Folgen erlebt Möller-Nehring in ihrer Praxis: „Es kommen immer mehr Kinder zur ­Abklärung von Legasthenie, Dyskalkulie oder ADHS zu mir. Dabei sind viele von ihnen gar nicht krank. Ihre Probleme werden meist ungewollt durch falsche Lehrmethoden verursacht. Die Abkehr vom geführten, gut strukturierten Klassenunterricht entzieht den Schülern die zentrale Instanz für das Lernen: den Lehrer.“ Mitverantwortlich ist die erste PISA-­Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2000, aus der Finnland als Primus hervorging. Deutschland landete nur im Mittelfeld. 
Also pilgerten Experten und Politiker gen Norden, um das ­Bildungswunder zu ergründen. Was sie mitbrachten, war eine schöne neue Schulwelt, in welcher der Lehrer eher ein Organisator von Gruppenarbeiten war und die Schüler anregte, sich selbst zu managen und von anderen Schülern zu lernen. Doch das Kopieren des Systems erwies sich als Fehler, wie Studien heute belegen. „Deutschland ist um ein Vielfaches größer als Finnland, da lassen sich Strukturen nicht einfach übertragen“, sagt Kristina Reiss, nationale PISA-Koordinatorin an der TU München. Diverse Reisen führten sie in das Spitzenland des PISA-Rankings, etwa nach Helsinki. „Was für den Erfolg dort sicherlich mitverantwortlich war, ist, dass Schulen in Finnland stimmig in ein gesellschaftliches System eingebettet sind. ­Hinzu ­kommen gute Arbeitsbedingungen, ein fundierter Förderunterricht und sehr gut ausgebildete Lehrer.“ Vorbild Finnland? 
Das ist schon wieder vorbei Trotzdem hat auch Finnland seine Vorbildrolle in den folgenden PISA-Erhebungen verloren: Die finnischen Schüler liegen längst nicht mehr an der Spitze. Zwischen den Jahren 2003 und 2012 büßte das Land 25 Punkte ein, in Mathematik schafften es die Schüler nicht einmal mehr unter die ersten zehn Plätze. Alle fragten sich, wie das nur möglich war. Gabriel Heller Sahlgren von der London School of Economics glaubt den Grund zu kennen: In ­einer Studie führt er das Schwächeln auf jene Reformen zurück, die Finnland in den 1990er-Jahren weg vom straff reglementierten hin zum freien Unterricht geführt haben, einem Unterricht, in dem die starke autoritäre Stellung des Lehrers eben nicht mehr maßgebliches Prinzip war. ­Sahlgren deckt damit genau diejenigen Methoden als ineffektiv auf, die die Bildungswelt zum finnischen Erfolgsgeheimnis erklärt hatte. „Die Noten werden genau da schlechter, wo die Reformen anfangen zu wirken“, heißt es in Sahlgrens ­Studie. PISA-­Koordinatorin Reiss bestätigt: „In der ­Bildungsforschung dauert es in der Regel zehn bis 15 Jahre, bis Veränderungen sichtbar werden.“ Soll der Lehrer also wieder mehr in den Mittelpunkt ­rücken? 
Ja, lautet die eindeutige Antwort von John Hattie. Der neuseeländische Bildungsforscher hat in seinem viel beachteten Buch „Visible Learning“ versucht, die wichtigste Frage der Bildungsforschung zu beantworten: Was ist guter Unterricht? Dazu hat er sämtliche englischsprachigen Studien zum Lernerfolg zusammengeführt – sei es zu Hausaufgaben, Förderunterricht, richtigem Feedback oder Vokabellernen. Ganze 50 000 Einzeluntersuchungen mit 250 Millionen beteilig­ten Schülern bezog er ein und kam zu dem Ergebnis: Auf die Lehrer kommt es an. Hattie vergleicht sie mit Regisseuren. „Damit meint er, dass ein Lehrer konkrete Vorstellungen und Pläne für seinen Unterricht und die Schüler ­haben muss. Das führt zu erfolgreicherem Lernen“, erläutert Bildungsforscher Wolfgang Beywl von der ­Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz (FHNW). Gemeinsam mit dem Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer hat er Hatties Bücher ins Deutsche übersetzt und ergänzt (z. B. „Lernen sichtbar machen“, Schneider Verlag). 
Hatties Rat an Lehrer: bloß nicht auf die Schüler allein vertrauen, nach dem Motto „Die können das schon, ich muss nur das Lernumfeld schaffen“. Bildungsforscher Beywl stimmt ihm zu: „Wenn ich offene Lernsettings habe, wo sich die Schüler die Probleme selbst suchen, kommen nur die Schüler gut voran, die ohnehin schon auf einem ­hohen Niveau sind. Schüler, denen Grundlagen fehlen, verlieren in solchen Lernsituationen. Das ist durch deutsche ­Forschungen gut belegt.“ Unterricht fehlt heute oft der systematische Aufbau. 
Auch Psychiaterin Möller-Nehring weiß, dass Kinder oft überfordert sind, wenn sie sich Probleme selbst erarbeiten sollen: Es fehlt der systematische Aufbau. Sie ­erzählt von der Mutter eines Zweitklässlers, dem im Mathematikunterricht gesagt wurde, er solle seinen eigenen Weg finden, um die Aufgaben zu lösen. Er probierte verzweifelt herum, wurde aber immer unsicherer. „Erst als die Mutter ihm klare Vorgaben machte, wie er diese und künftige Aufgaben derselben Art lösen sollte, gelang es ihm. Er wurde wieder sicherer, und in Mathe ging es bergauf.“ 
Die Ärztin aus Erlangen sieht sowohl Eltern als auch Lehrer in der Pflicht, ihre Führungsrolle wieder stärker wahrzunehmen: „Am Gegenüber von Erwachsenen entwickelt sich die ­Persönlichkeit der Kinder, ihre emotionale und soziale Psyche. Selbstständig werden gelingt nur auf der Grundlage von stabilen Beziehungen und einem soliden fachlichen Fundament, das sich durch Anleitung und adäquate Lern- und Übungsformen entwickeln kann.“ 
Das sieht auch Bildungsforscher John Hattie so. Er schreibt den Eltern, der sozialen Herkunft eines Kindes sowie weiteren nicht oder kaum beeinflussbaren Faktoren zwei Drittel am Lernerfolg zu, dem Lehrer ein Drittel. Bei den Unterrichtsformen definiert er insbesondere zwei Arten als wirksam: Zum einen direkte Instruktion zum Aufbau von Basis- und Ober­flächenwissen, zum anderen kooperative Lernverfahren zum Aufbau von Tiefenwissen – das gelingt, sofern ­diese Gruppenarbeiten sehr gut vorbereitet sind. Mit ­direkter Instruktion meine Hattie keineswegs den in Verruf geratenenen Frontalunterricht, erläutert Bildungsexperte ­Beywl. Der Lehrer solle vielmehr gemeinsam mit der Klasse einen neuen Stoff im Plenum erarbeiten. „­Haben es alle verstanden, kann eine sichernde Trainingsphase folgen“, so ­Beywl. Solch ein Unterricht aus gelenkten und individuellen Erprobungsphasen sei sehr erfolgreich
Und das solle jeder Lehrer regelmäßig für sich überprüfen, fordert Hattie, der die Pädagogen auch als Evaluatoren sieht. „Sie sollen sich auf Grundlage von Daten versichern: ‚Wo steht meine Klasse, wo die einzelnen Schüler, was löse ich mit meinen Unterrichtsmethoden aus, wie kommen wir ­voran?‘“, ­erklärt Beywl. Auch eine kleine Abfrage bei ­Schülern sei dabei ­hilfreich – eine ungewohnte Sichtweise für Lehrer, die sonst meist auf ihre Intuition vertrauten. Beywl: „Lehrer wissen, dass die eigene Reflektion ein wichtiger Bestandteil ihrer Professionalität ist. Hattie fordert sie nun zusätzlich zum Check an der Realität auf.“ 
Den optimalen Weg zum erfolgreichen Lernen haben die Deutschen offenbar noch nicht gefunden – zumindest lassen das die PISA-Ergebnisse vermuten. Zwar haben sich die schulischen Leistungen hierzulande in den vergangenen 15 Jahren kontinuierlich verbessert, wie aus einer im Frühjahr veröffentlichten Sonderauswertung der 2013 erschienenen PISA-Studie hervorgeht. Demnach sank der Anteil leistungsschwacher Schüler zwischen den ­Erhebungen 2003 und 2012 in Mathematik um vier und im ­Lesen um acht Prozent. Aber in Deutschland scheitert noch immer fast jeder fünfte Schüler an einfachsten Aufgaben. 18 Prozent der 15-Jährigen haben ausgeprägte Schwächen in Mathematik, 14 Prozent beim ­Lesen, zwölf Prozent im naturwissenschaftlichen Bereich. 
„Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder wieder eine stärkere Verankerung bei uns Erwachsenen bekommen – familiär und schulisch“, fordert Kinderpsychiaterin Möller-Nehring. „Sie sind von Natur aus darauf angewiesen, in einer personalen Struktur zu lernen und ihre Persönlichkeit zu entwickeln.“ Hilfreich dabei: klare, ruhige erzieherische Vorgaben. 
Ob ein „LehrplanPLUS“, wie es ihn in Bayern gibt, in die richtige Richtung weist? Er setzt auf Kompetenzorientierung – also darauf, dass Kinder ­Fähigkeiten aus sich selbst heraus entwickeln und weniger auf Wissen trainiert werden. Die Eigeninitiative zählt. Wird der Lehrer zum Coach und Lernbegleiter reduziert? 
Das wäre problematisch, meint Ärztin Möller-Nehring: „Dabei fällt eine ganz wichtige Funktion der Schule weg – das Einüben von Demokratie.“ Schließlich treffen in der Schule Kinder aus unterschiedlichen Familien mit verschiedenen sozialen Hintergründen aufeinander. Sie sollen lernen, andere zu respektieren, ihnen zuzuhören und eine Diskussionskultur zu entwickeln. „Dazu braucht es den Lehrer als Person und nicht als Moderator.“ Möller-Nehring glaubt an die Bedeutung einer wahren Lehrerpersönlichkeit: „Ein Lehrer muss Vorbild sein, Werte und Normen vermitteln und mit pädagogischem Geschick wirken. Doch dieser zwischenmenschliche Bezug steht leider nicht mehr im Vordergrund.“

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