Sonntag, 2. September 2018

Zurück in die Schule

Der neue Hund hat ins Wohnzimmer gepinkelt. Gestern war meine erste Reitstunde. Mama und Papa streiten sich viel. Das Zutrauen der Kinder hat Martin Pesch am meisten überrascht. „Die haben mir direkt alles erzählt und waren vom ersten Tag an total offen zu mir.“ Dieser Tag war der 1. Juni. Ein Freitag. Und Martin Peschs erster Tag in seinem neuen Job, als Lehrer an der Grundschule. Eigentlich ist er Diplom-Sportwissenschaftler, spezialisiert auf die betriebliche Gesundheitsförderung von Mitarbeitern großer Unternehmen. Jetzt soll er Kindern Spaß an Bewegung vermitteln. Martin Pesch ist einer von vielen, die das Loch kitten sollen, das in der Grundschullandschaft klafft.
Am kommenden Mittwoch beginnt das neue Schuljahr in NRW. An einigen Grundschulen, an denen nach Plan zehn Lehrerinnen und Lehrer arbeiten sollten, werden nur neun oder acht sein. „Die Not ist groß“, sagt Rixa Borns, die bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in NRW im Vorstand der Fachgruppe Grundschulen sitzt. Vor ihrer Pensionierung hat sie selbst eine Grundschule geleitet. „Es gibt einfach nicht genug ausgebildete Grundschulkollegen auf dem Markt, um alle Stellen zu besetzen.“ In manchen Regionen, schätzt die GEW, bleibt an jeder zweiten Grundschule mindestens eine Stelle unbesetzt. Für Martin Pesch ist diese Entwicklung ein großes Glück. „Der Vertrag in meinem alten Job lief Ende April aus und wurde nicht verlängert“, sagt der 35-Jährige. „Klar, ich hätte mir natürlich einen anderen Job in dem alten Bereich suchen können, aber ich hatte Lust auf was Neues und wusste, dass an Schulen gesucht wird.“ Erfahrung mit Grundschulkindern hatte er. Während des Studiums und als Berufsanfänger trainierte er insgesamt acht Jahre lang Kinder in einem Leichtathletik-Verein. „Ich hab mich erinnert, dass mir das immer großen Spaß gemacht hat.“ Pesch informierte sich bei befreundeten Lehrern über den Berufsalltag. Dann wagte er es einfach und bewarb sich.

Die Landesregierung hat sich sehr lange gesträubt 
Dass Menschen als Lehrer arbeiten, die ursprünglich mal etwas anderes studiert haben, ist nichts Neues, vor allem nicht bei Sportlehrern. Doch: Ihre Zahl steigt. Im Jahr 2017 waren laut Statistiken des NRW-Schulministeriums 789 von 7333 aller neu eingestellten Lehrer Seiteneinsteiger. Das ist eine Quote von 10,8 Prozent – drei Jahre vorher waren es noch 2,3 Prozent. „Dass Seiteneinsteiger auch in den Grundschulen arbeiten, hat man erst vor ein paar Jahren zugelassen“, sagt Rixa Borns von der GEW. „Es ist einfach eine große Herausforderung, mit einer so heterogenen Gruppe von kleinen Kindern zu arbeiten.“ Deswegen hat das Schulministerium nun auch veranlasst, dass Seiteneinsteiger an einer pädagogischen Einführung teilnehmen müssen. Der offizielle Erlass gilt jedoch erst seit Ende April. „Die Landesregierung hat sich einfach sehr lange gesträubt, zuzugeben, dass es nicht genug Lehrkräfte gibt“, sagt Borns. Seit dem 1. Juni 2018 arbeitet Martin Pesch nun als Sportlehrer an der Gemeinschaftsgrundschule Nümbrecht im Oberbergischen Kreis. In den anderthalb Monaten vor den Sommerferien hat er seinen Schulleiter – ebenfalls Sportlehrer und sein Ansprechpartner – nur begleitet. „Am Anfang wusste ich ja auch gar nicht, was ich in welchem Schuljahr mit den Kindern durchnehme und wie ich für Disziplin sorge. Jetzt fühle ich mich viel sicherer.“ Pesch arbeitet Vollzeit, zunächst für ein Jahr befristet. In der Zeit absolviert der Kölner parallel die pädagogische Einführung am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung: Ein Jahr lang wird er jeden Dienstag gemeinsam mit anderen Seiteneinsteigern ein Seminar besuchen und dort allgemeine pädagogische Grundlagen und spezielle Didaktik für sein Fach Sport lernen. Gleichzeitig soll er an der Schule von einem Kollegen betreut und eingearbeitet werden. „Das bedeutet im Rückschluss, dass uns die neuen Lehrer gar nicht Vollzeit zur Verfügung stehen. Ja, die Kollegen sich sogar noch zusätzlich um den Seiteneinsteiger kümmern und ihn anleiten müssen“, sagt Peter Bergmann (Name geändert), Leiter an einer Grundschule im Rhein-Erft-Kreis. Er hat für seine Schule im vergangenen Jahr eine Stelle ausgeschrieben – und wenn er von den etwa 50 Bewerbungen erzählt, klingt seine Stimme noch heute ungläubig. „Es waren Ökotrophologen dabei, Bauingenieure, Finanzmathematiker und Opernsänger. Ein Manager meinte, er beherrsche sehr gutes Business-Englisch und könne Kindern deswegen Englisch beibringen. Andere nannten als Qualifikation, selbst zwei Kinder zu haben.“ Eigentlich darf man sich überhaupt nur bewerben, wenn man ein Studium in Sport, Musik, Kunst oder Englisch abgeschlossen hat. Bergmann hatte Glück: Die Musikpädagogin, die das erste Staatsexamen absolviert und bereits zuvor Vertretungsunterricht an seiner Schule gegeben hatte, bewarb sich auch. Nun ist sie seine Kollegin. Das Verrückte an der aktuellen Situation ist, dass offensichtlich niemand sie so vorhergesehen hatte: Den Abiturienten, die vor fünf, sechs, sieben Jahren ihr Studium zum Grundschullehrer begonnen haben, wurde noch gesagt, dass sie später keinen Job finden würden, weil es zu viele Pädagogen auf dem Markt geben würde. Doch, wer hat sich da verrechnet? Es sind vor allem die Statistiker, die das Bevölkerungswachstum prognostizieren. „Noch vor zwei Jahren hieß es von Ministeriumsseite aus, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt wieder genug Grundschullehrer haben würden“, sagt Rixa Borns von der GEW. Mittlerweile sei die Anzahl der Studienplätze für Grundschullehrer in NRW um mindestens 250 erhöht worden. „Das reicht nicht. In Berlin haben sie die Anzahl der Studienplätze verdoppelt.“ Doch es sind ja nicht nur die unvorhergesehene steigende Geburtenrate und die Flüchtlingswelle, die in kurzer Zeit mehr Schüler ins System gespült haben. Die Gründe für den Lehrermangel an Grundschulen sind vielfältiger: Es beginnt bei der Arbeitslosen-Prognose von vor fünf Jahren, zieht sich über eine hohe Zulassungsbeschränkung für die Universitäten (der Numerus Clausus an der Universität zu Köln lag jahrelang um die 1,6) und endet bei der Umstellung der Studienordnung auf Bachelor und Master. Die Krux: Nur, wer seinen Master absolviert, wird zum Referendariat zugelassen – aber nicht für jeden Bachelor-Lehramtsstudenten ist auch ein Masterplatz vorgesehen. Zudem war das Lehramtsstudium für Grundschule früher kürzer als das für andere Lehrämter – es umfasste nämlich nur vier Jahre. Durch die Umstellung auf Bachelor und Master sind es heute aber fünf Jahre für alle. Trotzdem liegt das Gehalt eines Grundschullehrers im Schnitt immer noch ungefähr 400 Euro brutto unter dem eines Gymnasiallehrers. „Aus einem unserer GEW-Gutachten geht hervor, dass es verfassungswidrig ist, die Grundschullehrer schlechter zu bezahlen. Doch die Landesregierung ziert sich weiterhin, alle Lehrer gleich zu besolden“, sagt Rixa Borns. Auch wegen des Geldes würden einige Abiturienten gar nicht erst auf Grundschullehramt studieren. „Den Lohn zu erhöhen, wäre endlich mal ein Signal der Wertschätzung an die Kollegen.“ Und mit der Wertschätzung ist es so eine Sache. „Die steigende Zahl der Seiteneinsteiger suggeriert, dass eigentlich jeder Grundschullehrer sein kann. Das ist wie beim Fußball: Da sitzen auch tausende Experten vor dem Fernseher. Und zur Schule ist eben auch jeder mal gegangen“, sagt Schulleiter Peter Bergmann. „Dabei ist Grundschullehrer ein sehr spezieller Beruf.“ Im Studium lernten die angehenden Lehrer spezielle didaktische Methoden, zum Beispiel für den Deutschunterricht: „Es ist schließlich gar nicht so leicht, einem Erstklässler zu vermitteln, dass aus Silben und Lauten Wörter und Sätze werden“, sagt Bergmann. Katharina Silbernagel (Name geändert) kennt dieses Problem. Sie hat Deutsch und evangelische Religion für Gymnasien und Gesamtschulen studiert. Als sie mit dem Referendariat fertig war, hatte die alleinerziehende Mutter Angst, keinen Job zu finden. Deswegen nahm sie eine Stelle als Krankheitsvertretung an einer Grundschule an. Silbernagel übernahm eine zweite Klasse mit 28 Schülern als Klassenlehrerin, unterrichtete Deutsch, Kunst, evangelische Religion, Sachunterricht und Mathe. „Natürlich konnte ich die ganzen Inhalte, die ich da unterrichten musste“, sagt sie heute, ein halbes Jahr später. „Aber ich war sehr oft verunsichert, wie viel ich den Kindern inhaltlich zumuten kann – und wie ich das rüberbringen soll.“ 

Komplexe Didaktik 
So wusste sie zum Beispiel nicht, wie sie mit den Rechtschreibfehlern der jungen Schüler umgehen soll – vor allem, wenn diese an der Tafel standen. „Wenn ich als Referendarin am Gymnasium einen Rechtschreibfehler nicht korrigiert hätte, wäre ich durch die Prüfung gefallen. Als Grundschullehrer kann man die Fehler in gewissen Fällen aber stehen lassen.“ Die Tatsache, dass sie Mutter einer siebenjährigen Tochter ist, habe ihr zwar geholfen, die Lebenswelt der Kinder zu verstehen. Aber: „Die Didaktik ist extrem komplex, die Klassen sind heterogen, jedes Kind muss individuell gefördert werden. Ich denke, um die Kinder wirklich gut fördern zu können, braucht es speziell ausgebildete Grundschullehrer.“ Dass Seiteneinsteiger an Grundschulen unterrichten oder Gymnasiallehrer für zwei Jahre an Grundschulen arbeiten, um danach eine feste Stelle am Gymnasium zugesichert zu bekommen (siehe Kasten), findet sie deswegen nicht gut. Martin Pesch ist sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. An seinem neuen Arbeitsplatz gebe ihm keiner der Kollegen das Gefühl, Seiteneinsteiger kritisch zu sehen, erzählt er. Und auch die Schüler freuen sich über den Lehrer. „Die wissen besser, wann ich das nächste Mal in ihrer Klasse bin als ich“, sagt er. 

 ALS QUEREINSTEIGER IN DIE GRUNDSCHULE 
Wer als Seiteneinsteiger an Grundschulen in NRW arbeiten möchte, muss ein abgeschlossenes Studium in den Fächern Englisch, Sport, Kunst oder Musik haben und über Berufserfahrung verfügen. Freie Stellen für Seiteneinsteiger werden auf dem Portal Lois (www.lois.nrw.de) ausgeschrieben. Wer Interesse hat, bewirbt sich an einer der Schulen. Seiteneinsteiger nehmen an einer einjährigen pädagogischen Einführung an einem Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung teil. Sie werden in dieser Zeit fünf Mal im Unterricht besucht. Am Ende der Einführung gibt die Schulleitung ein Votum ab, eine Prüfung gibt es nicht. Andere Maßnahmen in NRW: Das nordrhein-westfälische Schulministerium hat nicht nur den Zugang für Seiteneinsteiger erleichtert. Auch Lehrer, die auf Haupt-, Real- und Gesamtschule studiert haben, können nun leichter an Grundschulen angestellt werden. Für Gymnasiallehrer gibt es einen besonderen Deal: Wenn diese sich verpflichten, für zwei Jahre an einer Grundschule zu arbeiten, bekommen sie danach eine feste Stelle an einem Gymnasium. Der Deal ist insofern lukrativ, als dass es an Gymnasien derzeit nur wenige freie Stellen gibt.

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