Herr Mastrandrea, ich begrüße Sie.
Ich grüße zurück, Herr Rüdiger.
Sie unterrichten an einer Neuköllner Oberstufenschule, und beim Stichwort Neukölln habe ich sofort die Assoziation, vermutlich handelt es sich um eine Brennpunktschule. (...) Wie nehmen Sie das Absinken des Leistungsniveaus bei sich wahr?
Vielleicht noch mal kurz, damit man das so ein bisschen auch einordnen kann: Ich bin jetzt seit 28 Jahren Lehrer, also seit Mitte der 90er Jahre, habe also natürlich einen Überblick. Es gibt Kollegen, die noch länger dabei sind. Und als ich einstieg, wurde schon gejammert und geklagt von den Kollegen: 'Ja, wir können ja nicht mehr das machen, was wir früher machten.' So damit stieg man auch ein. Und jetzt denkt man manchmal: Ja, man schart sich in die Reihe derer ein, die damals auch immer nur gejammert haben. Es tut es tatsächlich, weil es ist massiv. Ein Teil vielleicht auch dieser Gewaltproblematik, auch der verbalen Problematik, ist vielleicht auch eine Überforderung. Das kann auch sein bei den Schülern, dass sie merken, diese Dissonanz: 'Ich kriege das alles hier nicht hin', also muss ich irgendwie diesen Frust ablassen. Frustrationstoleranz, klar, die können nicht ansatzweise das machen, oder ich kann nicht ansatzweise das in meinen Fächern machen, was ich vor 20 Jahren gemacht habe, vor 10 Jahren gemacht habe. Ich bin jetzt auf einem Niveau angekommen, dass ich sagen muss: Tiefer geht's nicht. Ich gehe auch nicht tiefer. Ich muss jeden Abend, das ist so mein Leitmotto für mich persönlich, wie vielleicht jeder in den Spiegel gucken können und es halbwegs begründen können. Und ich bin sicherlich schon als der absolute Hardliner an der Schule, ja, und das aber, es geht nicht tiefer, weil die Schüler, und das kommen wir auf unseren Schultyp zu sprechen, kommen ja an sich theoretisch ausgebildet nach 10 Schuljahren mit einem Abschluss, theoretisch bei uns an.
So, und dann stellen wir aber den Status quo fest, zum Teil bei Lernstandserhebungen, die in den drei Kernfächern gemacht werden, die sollen sozusagen die Bildungsabschluss MSA, also mittlere Bildungsreife, nachsimulieren. Und das, was auf dem Papier steht, stimmt nicht mit der Realität überein. Und das ist der entscheidende Satz. Wir stellen fest, dass Schüler, ich habe es mir auch mal aufgeschrieben, mit eklatanten Schwierigkeiten im Fach Deutsch und Mathematik ankommen, offiziell einen mittleren Bildungsabschluss haben, aber nicht in diesem Test, zumindest ist es die Schwierigkeit des Tests zu Zeitpunkt X. Aber merkt man im Unterricht nicht ansatzweise das Niveau haben. Und die Deutsch-Kollegin, ich habe mir die Tests zuschicken lassen, sagte schon, sie hat schon sehr, sehr, sehr reduziert. Das ist immer, was steckt hinter dem Test, hinter der Note und welcher Inhalt steckt da drin? Es ist ein extrem sinkender Leistungsstand, zumindest an unserer Schule. Wir sind ja nur kein reines Gymnasium.
Ist das eine autonome Entscheidung von den Lehrpersonen?
Also, mit der Zuweisung: Die Schüler wählen diese Schule freiwillig. Sie haben in Berlin die Schulpflicht absolviert. Sie könnten auch jederzeit eine Ausbildung machen. Sie wählen freiwillig das berufliche Gymnasium, also das Gymnasium W, freiwillig. Die Berufsausbildung hier übernimmt übrigens der Staat die Aufgabe der Betriebe. Meines Erachtens übrigens eine versteckte Arbeitslosigkeit, weil die Schüler an der Schule eine Berufsausbildung erfahren im Schulbetrieb. Das ist vielen Menschen gar nicht so bewusst. Und ja, wie findet das statt? Ich nehme an, wie in jedem Lebensbereich. Also erstmal werden natürlich Rahmenpläne angepasst, Rahmenlehrpläne, zentrale Prüfungen werden angepasst. Wenn ich in meinem Fach die zentralen Abiturprüfungen sehe, muss ich sagen, das ist der Wahnsinn. Da wird in einem Text die Lösung vorgegeben und die Schüler müssen die Lösung zum Teil nur abschreiben in einer Abiturprüfung im Grundkurs. Es werden Rahmenlehrpläne verändert von oben, damit es nicht ganz so komplex ist. Schulintern wird dann rumgedoktert, wir stellen das um, wir machen den Namen, das Modul raus.
Es ist halt ein schleichender Prozess. Weil jetzt kommt ja der entscheidende Punkt: Was passiert denn, wenn ich jetzt so prüfe, wie ich es mal gelernt habe, wie ich es auch empfinde als eigenständige Lehrerpersönlichkeit? Was passiert? Ich prüfe das, die Schüler haben nicht die Leistung gebracht, ich habe die schlechten Noten bei schlechten Klausurergebnissen. Muss ich das, soll ich das genehmigen lassen? Das heißt, ich bin in einer Art Rechtfertigungspflicht. Und damit fängt schon für viele Kollegen der Stress an. Dann wird ja nichts Schriftliches gemacht, kommt auf informellen Wegen, so in den Konferenzen, Klein-Konferenzen, "man beschwert sich schon über dich: 'Mach es mal ein bisschen einfacher. Mach doch mal nicht 90 Minuten, sondern prüf nur mal 60 Minuten. Mach mal ankreuzend."
Und der Höhepunkt einer der vielen schönen, netten Höhepunkte war, dass dann plötzlich mal eine Dienstbesprechung stattfindet, weil die Noten in den naturwissenschaftlichen Bereichen ja so schlecht sind. Man hätte sich über uns beklagt, von außen, von den Beratungslehrern, die Schüler an unsere Schule schicken. Dann sitzt man dann zusammen und mit nicht gestandenen Kollegen macht das was. Und dann haben wir wieder das Problem der jungen Kollegen. Da hat letztens, glaube ich, auch einer Ihrer Interviewpartner etwas dazu gesagt zur Lehrerpersönlichkeit. Und der hatte eine Studie. Das macht dann was. Was macht man? Man geht entweder in innere Migration und sagt sich: 'Ja, ist doch egal.' Ein Kollege hat es mir beim Kopierer gesagt, meinte ich, ich muss da ein bisschen vertreten, die konnten nichts wirklich, die einfachsten Dinge nicht in Mathematik wirklich am Ende, also nach 10 Jahren. Und er sagt aber: 'Weißt du was, am Ende des Monats guckst du auf deinen Gehaltszettel und das beruhigt dich dann doch.'
Wenn Sie keinen Stress haben wollen, geben Sie gute Noten. Bis zu vier gute Noten müssen, das ist mein ältestes Motto. Wird nicht gerne in Konferenzen gehört, wird auch immer übergangen: Wenn der Spinner da hinten was sagt, gute Noten müssen nicht begründet werden, schlechte Noten schon. Also was macht man in einem Automatismus? Damit man solche Gespräche gar nicht erst führen muss oder mal zum Direktor reingeladen wird oder der Abteilungsleiter kommt runter und sagt: 'Schreib doch mal die Klausur noch mal nach.' Was nicht rechtens ist, ist: Mach das noch mal, um sich das alles zu vermeiden. Über die Jahre steter Tropfen höhlt dann auch das Bewusstsein. Dann ist das ein schleichender Prozess.
Wie reagieren denn die Abnehmerschulen darauf?
Da wird ja einfach das Problem von der Grundschule über diese berufliche Gymnasialausbildung dann an die Fachhochschule oder Hochschule, an die dann die jeweiligen Schüler weitergereicht. Nur mal zu dem Abitur: Wie gesagt, diese Übernahme aus Textstellen ist natürlich nur ein Teil, ist überhaupt keine Frage. Dann gibt es natürlich andere. Aber wenn Sie jetzt mein Fach Chemie ansprechen, der chemie-relevante Teil, was wir mal noch gelernt haben, ich habe selbst noch eigene Prüfungsvorschläge in den 90er Jahren selbst erstellt oder bis Anfang der 2000er Jahre. Und da ist es eine schriftliche Prüfung in Chemie gewesen und da kam Chemie vor. Natürlich musste man die Aufgabenstellung verstehen, aber da kam Chemie vor. Die abnehmenden Schulen, also wir sind ja zum Teil jetzt selbst abnehmende Schulen von den Sekundarschulen, von Gesamtschulen würde man vielleicht in anderen Teilen der Republik sprechen oder vielleicht auch noch ansatzweise mal von einem Gymnasiasten. Wir reagieren darauf mit natürlich mit Unverständnis. Die Rückmeldung, natürlich von einer Fachhochschule oder von einem Betrieb oder von der Hochschule, haben wir ja nicht direkt. Es kommt jetzt kein HCH-Dekan zu uns und sagt: 'Was schickt ihr uns denn dann weiter?' Aber sie haben natürlich das Problem, das Problemfeld erfasst. Man schiebt das Problem immer nur weiter.
Die Kollegen, die eine Heidenarbeit und eine Basisarbeit leisten müssen in der Grundschule, Hut ab, davon. Ich habe ja selbst zwei Kinder, die durch dieses Schulsystem gegangen sind, die eine Heidenarbeit in der Grundschule leisten und da die Fundamente setzen, geben möglicherweise die Probleme nur weiter an die nächste Schule. Wir erben sie dann und wir geben sie dann ganz allgemein an die Gesellschaft oder immer an einer Art von Hochschule weiter. Und das Feedback, das wir bekommen, und das ich bekomme: Manchmal bekenne ich, ja noch häufiger Schüler, so nach der Ausbildung zu uns, am Tag der offenen Tür kommen manchmal zu uns und die scheitern in der Regel, wenn man jetzt nur unser berufliches Gymnasium nimmt, scheitern aus meiner Sicht reihenweise an den Hochschulen, an den richtigen Unis. Unser Abitur sage ich den Schülern auch so deutlich, denn das Wichtigste ist, finde ich, auch in der Ehrlichkeit und der Transparenz zu haben. Sage ich den Schülern ganz ehrlich: Das Abitur an vielen Schulen, an meiner Schule, ist nicht mehr die allgemeine Hochschulreife. Wenn Sie mit einer 2,0 rausgehen, ist das eine Note, aber ich lege meine Hand ins Feuer, Sie werden große Probleme bekommen an jeder normalen Uni, zumindest in bestimmten Fächern. Und nur sehr, sehr wenige schaffen das dann sogar in unseren Schwerpunktfächern, dann das Hochschulstudium zu machen. Die brechen ab, die sagen: 'Das ist der Wahnsinn, was da in Mathematik oder in Informatik oder was auch immer gefordert wird.' Viele fangen danach noch mal eine Lehre an, weil sie jetzt soweit sind, dass sie eine Lehre anfangen können. Ja, und das ist, wie gesagt, die Note, die da steht, spiegelt nicht das wieder, aus meiner Sicht, was eigentlich hinter einer 2,5 oder einer 2- stehen sollte. Ich würde mich nicht darauf verlassen.
Jetzt gibt's natürlich auch noch eine wachsende Anzahl von Schülern, die in einem speziellen Setting laufen unter dem sogenannten Nachteilsausgleich. Was sind denn in diesem Bereich Ihre Erfahrungen?
Um das mal zu verdeutlichen, das ist dann so im Berliner Schulgesetz, glaube ich, § 50, festgelegt. Schüler, die mit Mankos, um das mal so umgangssprachlich zu formulieren, ankommen, haben dann bei uns Beratungslehrer, die, na ja, meine Kollegen, wenn die das hören, werden sich wahrscheinlich ein bisschen angegriffen fühlen, geschult sind und dann mit Hilfe einer Senatsstelle entscheiden, ob der Schüler einen Nachteil hat. Dieser Rechtschreibsprecher ist ja nur so die bekannteste Geschichte: Konzentrationsschwächen aufgrund einer mir nicht nachvollziehbaren Diagnostik, die er sich vielleicht von extern einholt. Wird dann der Schüler, kriegen wir dann wunderbare, inzwischen E-Mails und Mitteilungen, wird dann der Schüler von bestimmten Dingen befreit im Unterricht in einer vollen Klasse oder darf bestimmte Dinge tun in einer vollen Klasse. Also kriegen wir solche Sachen wie: 'Das ist ja noch marginal, der Schüler hat eine Zeitverlängerung bei schriftlichen Prüfungen.' Wie das zu organisieren ist, wenn ich 90 Minuten Unterricht habe, wie ich das jetzt organisiere, weil ich da nachher Unterricht habe, das ist egal. Das wird nicht damit verbunden. Also es wird wieder die Verantwortung an den unterrichtenden Lehrer runter gepostet. Was macht man? Man macht automatisch eine kürzere Klausurzeit, also um die Schwächeren zu fördern. Aber es gibt dann abstruse Dinge, dass Schallschutzkopfhörer im Unterricht getragen werden können sollen oder es erlaubt ist, dass nur freiwillige mündliche Leistungen einzufordern sind. Wenn er nicht möchte, muss er nicht arbeiten oder muss er nichts abgeben. Ja, also es gibt Dinge, die rein praktisch in einer, ich betone noch mal, 25 oder 28 oder auch 20 Schüler in starken Klassen praktisch nicht durchsetzbar sind. Und ich habe ja noch andere Schüler, die mit anderen Mankos da sind. Und in ihrer Abstrusität und in ihrer Menge, was jetzt einfliegt, also zum Teil habe ich nicht genau, aber manchmal haben wir ein Drittel der Klasse, die diese Nachteilsausgleiche haben. Jetzt müsste ich also eine Liste vorne haben: Schüler x, y, z hat die und die, da auf diese Problemfälle eingehen. Dahinter steht natürlich, dass wenn man das kritisiert und anmerkt, sitzt dann der Direktor in der Notenkonferenz dabei und dann dreht er sich zu einem um und sagt: 'Ja, Kollege, wir sind gesetzlich dazu verpflichtet, die Inklusion durchzuführen und Sie haben sich halt daran zu halten.' Und wenn der Direktor was sagt, spiegelt zu 90, 95, 97 % das Kollegium, weil das hat er dann Vorgesetzter gesagt. Wiederworte sind da nicht so angesagt, dass man dann mal sagen könnte: 'Ich melde mal, es ist praktisch nicht möglich.'
Ich habe eine abschließende Frage: Wir haben jetzt so viele verschiedene Schwierigkeiten und Herausforderungen angesprochen. Können Sie im Lehrerzimmer darüber noch offen sprechen? Sprechen Sie ein gesellschaftliches Problem an?
Ich gebe mal die Frage auch an alle Zuhörer und alle anderen zurück: Kann man über bestimmte Dinge überhaupt öffentlich sprechen? Wenn man sich das reflektiert, sollte man sagen: 'Auf der Arbeitswelt, also mal so, wir haben jetzt auch kein zentrales Lehrerzimmer oben bei uns. Wir haben viele verschiedene kleine Lehrerzimmer. Da bin ich aber aus meinem Lehrerzimmer vor drei Jahren ausgezogen, weil ich die Unehrlichkeit und das, was da passierte, ist an den Schulen, anderes Themenfeld, nicht akzeptieren und nicht ertragen konnte.' Nein, also Sie gucken sich immer an: Mit wem kann ich reden? Man hat seine Spezies, man weint sich an der Schulter des anderen aus oder man redet über die Problemfelder. Aber das Gefühl zu haben, da Problempunkte, gerade das Thema Migration ist ein Thema, das gerade sehr, sehr hochkommt, offen und ehrlich und vorurteilsfrei anzusprechen, habe ich jetzt, ist es ein Gefühl, habe ich nicht. Ein Kollege hat letztens zu dem anderen Kollegen gesagt, der sich da so ein bisschen beschwert hat: 'Da musst du mal aufpassen.' Nein, also ich denke mal, dass viele Problemfelder nicht direkt die Ursachen angesprochen werden können. Es wird darüber gejammert und dann wird immer gesagt: 'Ja, wir müssen halt was draus machen. Macht was draus.' Und was draus gemacht werden kann, damit das halt nicht zu hohen Abbrecherzahlen kommt. Denn Sie müssen sich jetzt vorstellen: Wenn die Abbrecherzahlen so sind, dann heißt es immer, die ultimative Ratio ist dann immer: 'Dann müssen wir den Bildungsgang einstampfen. Dann haben wir den Bildungsgang nicht mehr.' Das heißt ja dann so nach dem Motto: 'Dann kannst du hier nicht mehr unterrichten, Jobverlust. Dann musst du woanders.' Und dann wird darüber nicht mehr gesprochen und dann wird versucht, in dem System das hinzubiegen und es irgendwie hinzukriegen, dass halbwegs die Statistik stimmt.
Herzlichen Dank für die Zeit.
Ich danke Ihnen, Herr Rüdiger, und für die Möglichkeit, darüber zu sprechen. Danke schön.
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