Seit Jahrzehnten quälen sich Bayerns Grundschüler durch Druckschrift und Schreibschrift. Doch das könnte bald Geschichte sein – ein revolutionärer Schritt.
München – Bislang müssen Bayerns Erstklässler erst Druckschrift pauken, dann gegen Ende der ersten Klasse kommt die verbundene Schreibschrift dazu. Das bedeutet: Jeder Buchstabe muss in vier Varianten gelernt werden – Groß- und Kleinbuchstaben sowohl in Druck- als auch in Schreibschrift. Dazu kommen unzählige Verbindungsmöglichkeiten zwischen den Buchstaben.
Grundschüler lernen vier verschiedene Buchstaben-Varianten pro Zeichen – das verwirrt.
Neue Studien beweisen: Schreibschrift bremst Kinder aus, statt zu helfen.
43 Schulen testen bereits eine völlig andere Methode - mit verblüffenden Ergebnissen.
„Die Vereinfachte Ausgangsschrift ist für manche Kinder schwierig und führt oft zu Handschriften, die schwer lesbar sind“, bilanziert Maria Wilhelm, Leiterin des Grundschulreferats im Kultusministerium. Noch dramatischer: „Wir erleben häufig, dass die Kinder in der Jahrgangsstufe drei wieder in Druckschrift zurückfallen, obwohl sie zuvor eine Schreibschrift erlernt haben.“
Studie enthüllt: Schreibschrift macht langsam
Die wegweisende Forschung von Eva Odersky von der Uni Eichstätt bringt es auf den Punkt: Schreibschrift verlangsamt die Kinder. Bei einem Fünf-Wörter-Satz brauchten Kinder mit verbundener Schrift im Schnitt 22 Sekunden. Druckschrift-Schreiber waren zwei bis drei Sekunden schneller, teilverbundene Schreiber sogar vier Sekunden.
„Das macht im Schulalltag auf eine ganze Seite gesehen einen großen Unterschied aus“, erklärt die Forscherin. Noch verblüffender: Während Druckschrift-Kinder in der Luft den direkten Weg zum nächsten Buchstaben nehmen, machen Schreibschrift-Kinder unsichtbare Kurven und Kringel - reine Zeitverschwendung.
Das „FlowBy“-Experiment: Revolution im Klassenzimmer
Die Konsequenz: Das Kultusministerium hat den Modellversuch „FlowBy“ gestartet. An 43 Grundschulen entwickeln Kinder direkt aus der Druckschrift ihre individuelle Handschrift – ohne den „Umweg“ über die klassische Schreibschrift. In speziellen „Schreibwerkstätten“ probieren sie passende Buchstabenverbindungen aus.
Das Projekt wird bis zur vierten Klasse wissenschaftlich begleitet und vermessen - nicht nur die Geschwindigkeit, sondern auch jede Stiftbewegung wird aufgezeichnet.
Andere Länder machen es vor
Bayern steht nicht allein da: In mehreren Bundesländern ist die Grundschrift bereits als Alternative erlaubt. Baden-Württemberg stellt es den Schulen frei, auf Schreibschrift zu verzichten. Die Schweiz hat der „Schnürlischrift“ komplett den Rücken gekehrt.
Entscheidung fällt schon 2026
Je nach Ergebnissen des „FlowBy“-Projekts könnte die Grundsatzentscheidung bereits im Schuljahr 2026/27 fallen. Angelika Speck-Hamdan, emeritierte Grundschuldidaktikerin der Ludwig-Maximilians-Universität München, schätzt: „Höchstens ein Jahrzehnt wird es dauern, bis sich der einphasige Schrifterwerb in Bayern durchgesetzt hat.“
Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband sieht das zwiespältig. „Eine absolute Norm macht aber keinen Sinn“, betont BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Wichtig sei die individuelle Entscheidung für jedes Kind.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen