Silvano D’Agostino ist sich so gut wie sicher, dass auf seinem Abiturzeugnis die Bestnote 1,0 stehen wird, wenn er in knapp zwei Wochen sein Zeugnis bekommt. Der Achtzehnjährige besucht die zwölfte Klasse des Hermann-Böse-Gymnasiums in Bremen, und bisher hat er alle nur möglichen Punkte erreicht. Getan hat er allerdings wenig für die Schule: Pro Abiklausur einen Nachmittag lang gelernt. Gereicht hat das locker. Im Herbst wird D’Agostino nach Harvard gehen, er hat ein Stipendium bekommen.
Vor den Sommerferien ist es wieder so weit. Dann bekommen rund 330 000 Abiturienten in ganz Deutschland ihre Zeugnisse. Seit Jahren sind es so viele, die Quote der Abiturienten liegt stabil bei um die 40 Prozent, während sie vor zwanzig Jahren noch bei 27 Prozent lag. Und damit nicht genug: Wie von Zauberhand werden diese Schüler auch immer besser.
Der Anteil derjenigen, die ein glattes Einserabitur gemacht haben, ist allein zwischen 2006 und 2012 bundesweit um vierzig Prozent gestiegen - auf 4600 Schüler. Auch die Durchschnittsnote der Abiturienten hat sich in fast allen Bundesländern verbessert (Ausnahmen: Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern). Spitzenreiter ist Berlin mit einer Steigerung der Durchschnittsnote von 2,68 auf 2,4 zwischen 2006 und 2012.
Durchlässigkeit der Gesellschaft
Gibt es also heute mehr kluge junge Leute als früher? Oder bekommen bloß immer mehr Schüler ihr Abitur hinterhergeschmissen?
Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat darauf eine klare Antwort: „Wenn man ihren Bildungsstand in Pisa-Punkten misst, sind jetzt auch Studenten an den Hochschulen, die nicht so gut sind wie die Studenten von früher.“
Der Bildungsexperte Axel Plünnecke legt allerdings Wert auf die Feststellung, dass dies nicht an der größeren Dummheit der Abiturienten liegt, sondern an einer nie zuvor dagewesenen Durchlässigkeit der Gesellschaft: „Es kommen ganz neue Gruppen von Schülern an die Hochschulen, die zum Beispiel vorher an beruflichen Schulen waren.“
In einer noch unveröffentlichten neuen Studie beweist Plünnecke freilich auch: „Wenn man annehmen würde, dass nur die Besten eines Jahrgangs später studieren, so haben einige Studienanfänger heute geringere Mathe-Leistungen bei Pisa als die Studienanfänger früherer Jahre.“ Der Wert sinke zwischen 2003 und 2009 um 17 Punkte. „Das ist eine Menge, ungefähr der Lernfortschritt eines halben Schuljahrs.“ Bei der Lesekompetenz sinkt der Wert sogar um 27 Punkte.
Wie passt das aber mit den vielen guten Abiturnoten zusammen? Ganz einfach: Bildungsforscher bemängeln, dass das Abitur immer leichter werde und damit eine schleichende Entwertung der Abiturzeugnisse einhergehe. Von einer Noteninflation, die nicht immer zum tatsächlichen Wissensstand der Abiturienten passe, spricht zum Beispiel Rainer Bölling, Autor der „Kleinen Geschichte des Abiturs“.
Deutschland hinkt hinterher
Die sei politisch gewollt. Schließlich hinke Deutschland im internationalen Vergleich hinterher. Während in Deutschland 40 Prozent Abitur machen, sind es in anderen hochentwickelten Ländern gut 60 Prozent, in Frankreich sogar 80 Prozent. Da liegt der Gedanke nahe, die Anforderungen an das Abitur zu senken, um auch hierzulande die Abiturientenquote in die Höhe zu treiben und deutsche Schüler notenmäßig wettbewerbsfähig zu machen.
Dazu wurde an drei entscheidenden Stellschrauben gedreht, wie Ralf Treptow erklärt, der stellvertretende Vorsitzende der Bundesdirektorenkonferenz Gymnasien:
Erstens wurde das Zentralabitur eingeführt. „Dadurch sind die Noten besser geworden. Das konnte man gut beobachten, als es das Zentralabitur noch nicht in allen Bundesländern gab. Da hinkten die Schüler mit dezentralem Abi hinterher.“
Zweitens hat man in vielen Ländern ein fünftes Abiturprüfungsfach eingeführt, in dem eine „besondere Lernleistung“ geprüft wird. „In diesem fünften Fach gibt es signifikant bessere Noten“, sagt Treptow. Drittens hat sich die Notendefinition geändert: Die gleiche Leistung wird heute besser bewertet als früher. „Im Schnitt sind dadurch alle Schüler in Deutschland um ein Zehntel besser geworden.“
„Mit relativ flachem Wissen kann man da durchkommen“
Wie sich das Drehen an diesen Stellschrauben in der Praxis auswirkt, erzählt Susanne Burkamp, Lehrerin für Erdkunde und Geschichte an einem nordrhein-westfälischen Gymnasium: „Früher galt in allen Fächern, dass zum Bestehen mindestens 50 Prozent der Punkte erreicht werden mussten. Heute hat man mit der Hälfte der Punkte schon eine Vier plus.“ In Englisch sei man früher durchgefallen, wenn man in Rechtschreibung und Grammatik eine ungenügende Leistung erbracht habe.
Einwanderer sind besser qualifiziert als Deutsche
Heute werde eine ungenügende sprachliche Darstellung mit dem Abzug von lediglich einem Fünftel aller möglichen Punkte bewertet, außerdem dürfe man in den fremdsprachlichen Abiturprüfungen in Nordrhein-Westfalen - wie in vielen anderen Ländern auch - ein zweisprachiges Wörterbuch benutzen.
In Geschichte seien die Anforderungen ebenfalls lasch. Dort könne eine Karikatur Inhalt der Prüfung sein, bewertet werde die Klausur dann so: Allein für die Erkenntnis, dass es sich um eine Karikatur handele, für die Beschreibung des Bildes, die Nennung des Zeichners und die Nennung des Erscheinungsdatums, die beide unter dem Bild stehen, erhalte ein Schüler schon 26 von hundert möglichen Punkten. Wenn er dann noch in korrektem Deutsch formuliere, erhalte er nochmals bis zu zwanzig Punkte - und habe damit mindestens eine Vier, selbst wenn die eigentliche analytische Leistung null war. „Mit relativ flachem Wissen kann man da durchkommen“, so Burkamp. „Das ist nicht in Ordnung.“
Kaum ein Schüler kann an den Aufgaben scheitern
Selbst manche Abiturienten wundern sich öffentlich über das niedrige Niveau. So postete ein Nutzer namens „Metman“ im Mai 2011 nach seiner Physik-Leistungskursklausur in Nordrhein-Westfalen im Forum von www.uni-protokolle.de: „LTH2 war ja echt mal nen Witz ^^ Hätte überhaupt nichts lernen brauchen, war auch ne halbe Stunde vorm Ende fertig. Richtig geil.“ Und „Skos“ antwortet darauf: „mathematischen anspruch hatte es so irgentwie (sic!) gar nicht.“
Die guten Noten, die sie für solche Klausuren bekommen, freuen die Schüler und deren Eltern aber dann doch, und so zieht schnell viel Zorn auf sich, wer es wagt, die Leistungen der Abiturienten in Frage zu stellen. Davon kann Hans Peter Klein, Professor für Didaktik der Biowissenschaften an der Uni Frankfurt, ein Lied singen. Er verglich kürzlich gemeinsam mit einem Kollegen zwei Abituraufgaben aus dem Bereich der Ökologie. Die eine stammte aus dem Jahr 2005, die andere aus 2010. Klein will entdeckt haben, dass die Schüler 2010 - anders als noch fünf Jahre zuvor - keinerlei Fachwissen mehr für die vollständige Lösung der Aufgabe benötigten.
Es habe genügt, „Lesekompetenz und Alltagswissen einzubringen“ sowie „vorgegebene Textpassagen einfach zu entnehmen oder umzuformulieren“. An derartigen Aufgabenformaten könne „kaum ein Schüler scheitern“.
Die Universitäten verzweifeln
Schon vor vier Jahren hatte der streitbare Professor mit einer ähnlichen Studie die Bildungspolitik aufgemischt. Damals hatte er die neunte Jahrgangsstufe eines nordrhein-westfälischen Gymnasiums eine Abitur-Leistungskursarbeit im Fach Biologie schreiben lassen - ohne jede inhaltliche oder formale Vorbereitung. 83 Prozent der Schüler hätten bestanden, einer sogar mit einer Eins.
Immer mehr Abiturienten mit ganz passablem Notendurchschnitt werden so an die Hochschulen gespült. So wie jener 24-Jährige, der 2009 auf einem der besten staatlichen Gymnasien in Hamburg Abitur in den Fächern Deutsch, Englisch, Biologie und Pädagogik machte. Sein Durchschnitt lag bei 1,9, freilich war er nach eigener Aussage kaum in der Schule: „40 Prozent des Unterrichts habe ich in den letzten beiden Schuljahren geschwänzt, weil mich der Unterricht gelangweilt hat. Vorbereitet habe ich mich trotzdem kaum, in Bio haben zwei Tage genügt, in denen ich mir die Biologiebücher noch mal durchgelesen habe.“ Warum er mit diesen Fehlzeiten überhaupt zum Abitur zugelassen wurde? „Man durfte 33 Prozent fehlen; wenn es mehr war, wurde man nicht mehr bewertet. Aber wenn man ärztliche Atteste hatte, eben doch. Die hab’ ich mir besorgt.“
Das Abitur, ein Klacks? Und plötzlich ist der Olli schlau? Manchmal verzweifeln die Universitäten jedenfalls geradezu an ihren bildungsarmen Erstsemestern. So bestanden vor zwei Jahren nur 22 von 305 Lehramtsanwärtern im ersten Anlauf eine Mathe-Klausur der Uni Köln.
Kompetenz statt reines Wissen
In einer Stellungnahme bescheinigte die Mathe-Fakultät den Studierenden nach Bekanntwerden der hohen Durchfallerrate „ungenügende Vorkenntnisse“: „Die erfolgreiche Bearbeitung der Aufgaben scheitert sehr häufig nachweisbar an einfachen Rechnungen wie Punkt- vor Strichrechnung, Ausklammern, Multiplikationsaufgaben wie 5 × 25, dem Kürzen von Brüchen, Potenzrechenregeln etc. Auch weitergehender Stoff aus der Mittelstufe wie das Lösen quadratischer Ungleichungen steht häufig nicht zur Verfügung. Begriffliches Denken oder Sätze mit mathematischem Sinn zu formulieren, fällt vielen schwer.“
Petra Stanat, Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen an der Berliner Humboldt-Universität, hält solche Klagen für „zu pauschal“. Ihr Institut hat die Fäden in der Hand, wenn es darum geht, festzulegen, welche Kompetenzziele die Schüler in den einzelnen Bundesländern erreichen sollen. Zudem wird es in Zukunft den Ländern ganz konkret Aufgaben zur Verfügung stellen, die in den Abiturprüfungen eingesetzt werden können. „Es gab schon immer Beschwerden von Hochschulen, aber auch von Gymnasien oder Realschulen, dass die Schüler in der Schulstufe davor nicht genug gelernt hätten.“
Aber das sei nicht belegt. Die Schüler lernten heute bloß anders als früher. Kein reines Wissen mehr, sondern „Kompetenzen“, also Wissen und Fähigkeiten, mit denen sie etwas anfangen könnten. „Dabei darf man die Vermittlung von Wissen natürlich nicht zu weit herunterfahren“, gibt sie zu. Man müsse das richtige Maß finden. Nicht immer gelinge das: „Bei dem einen oder anderen Lehrplan wurde die Kompetenzorientierung vielleicht etwas weit getrieben.“
Noten werden durch die Decke gehen
So wird es wohl auch bei den Lehrplänen der 283 durchgefallenen künftigen Mathelehrer an der Uni Köln gewesen sein, die vor lauter „Kompetenz“ nicht mehr rechnen konnten. Eine durchaus praxisnahe Aufgabe, die ihnen zu schaffen gemacht hatte, lautete wie folgt: „Eine Blaskapelle erhält einen Betrag von 10 000 Euro, um Trompeten und Posaunen anzuschaffen. In der erwünschten Qualität kosten eine Trompete 1050 Euro und eine Posaune 1200 Euro. Warum kann der zur Verfügung stehende Betrag nicht restlos ausgegeben werden? Welches ist der höchste Betrag, der ausgegeben werden kann, und wie viele Instrumente beider Arten werden jeweils für diesen Höchstbetrag angeschafft?“
Das hört sich dann doch eher nach Mittelstufe als nach Uni an.
Dass die Bildungspolitik das Ruder herumreißen wird, ist nicht zu vermuten. Vielmehr wird die Nivellierung des Niveaus weiter fortschreiten. Die Kultusminister haben beschlossen, dass von 2017 an nicht nur innerhalb der einzelnen Bundesländer, sondern in allen Bundesländern vergleichbar schwere Abiturprüfungen geschrieben werden sollen. Wahrscheinlich werden die Noten dann überall durch die Decke gehen.
Was das für die Gerechtigkeit bei der Studienplatzvergabe in Numerus-clausus-Fächern bedeutet, kann man schon jetzt voraussehen.
Der gebürtige Ukrainer Wadim Vodovozov machte 2011 mit einem Notendurchschnitt von 0,7 das beste Abitur Baden-Württembergs und bewarb sich in Heidelberg um einen Studienplatz in Medizin. Bekommen hat er ihn nicht. In seinem Jahrgang gab es zu viele Einser-Abiturienten für die reservierten Plätze - deswegen musste gelost werden. Wadim hatte Pech.
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