Donnerstag, 8. September 2016

Verbände üben scharfe Kritik an Landesregierung

Düsseldorf - Mehrere große Pädagogenverbände haben der Landesregierung am Mittwoch vorgeworfen, die Schulen bei der Umsetzung der Inklusion im Stich zu lassen. Der Chef des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann, sprach im Schulausschuss des Landtages sogar von einer "ignoranten Haltung" der Regierung. Die immer wieder von Lehrern vorgebrachte Kritik am "mangelhaft" organisierten gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern werde von Rot-Grün gar nicht wahrgenommen. Dabei seien die Zustände in vielen Klassen katastrophal, hieß es in der Expertenanhörung. Es fehlten rund 7000 Pädagogen, die vorhandenen Lehrkräfte seien in der Regel nicht gut auf die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen vorbereitet, die Klassen seien zu groß und Lehrer-Doppelbesetzungen von inklusiven Klassen die absolute Ausnahme.
Udo Beckmann beschrieb die Hilflosigkeit vieler Lehrer im Umgang mit sehr verschiedenen Kindern so: "Es ist, als würde ein Hausarzt plötzlich am OP-Tisch stehen. Die Grundkenntnisse sind zwar da, aber es fehlt die fachliche Übung und Vorbereitung." Von "Hilferufen" ausgerechnet jener Lehrer, die zum Teil schon seit vielen Jahren und aus Überzeugung behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichten, erzählten die Ausschussmitglieder Petra Vogt (CDU), Yvonne Gebauer (FDP) und Monika Pieper (Piraten). Die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Dorothea Schäfer, bestätigte dies: "Sogar Schulen mit großen Inklusionserfahrungen stellen fest, dass die Konzepte nicht funktionieren." Das Stellenbudget der Schulen reiche hinten und vorne nicht. Schon im Mai hatten Pädagogenverbände und Gewerkschaften in einer "Mülheimer Erklärung" um Hilfe gerufen: Die Landesregierung mache den Erfolg des gemeinsamen Unterrichts vor allem an der Zahl der behinderten Kinder im Regelunterricht fest. Die Qualität dieses Unterrichts sei zweitrangig, schimpften die Verbände. Die Piraten hatten daraufhin Rot-Grün aufgefordert, die sonderpädagogische Förderung an den Schulen in NRW zu verbessern. Bei der Expertenanhörung am Mittwoch im Landtag fand dieser Antrag breite Unterstützung.
 Besonders drastisch schilderte Brigitte Balbach vom Verband Lehrer NRW die Lage. Die Inklusion werde in unserem Bundesland "vor die Wand gefahren", die Landesregierung ersticke jede Diskussion über Lehrer-Doppelbesetzungen im Keim, der gegenwärtige Unterricht werde "keinem Schüler gerecht". Mehrere Experten berichteten sogar von Pädagogen, die Angst davor hätten, sich für die Inklusion weiterbilden zu lassen, weil sie fürchteten, danach die eigene Schule und den gewohnten Arbeitsplatz verlassen zu müssen. Die Nachfrage nach für die Inklusion qualifizierten Lehrern und nach Sonderpädagogen sei extrem groß. Renate Hendricks (SPD) sprach von "Abwerbeversuchen" durch andere Bundesländer. "Die 7000 Pädagogen, die nach Einschätzung der Verbände in NRW für den inklusiven Unterricht fehlen, sind gar nicht auf dem Markt", sagte sie. Der Verband Sonderpädagogik NRW kritisierte, Qualitätsfragen bei der Inklusion seien in den vergangenen Jahren stets vernachlässigt worden. "Wir brauchen einen Masterplan Inklusion", forderte der Vorsitzende, Wolfgang Franz.
Ein sehr grundsätzliches Problem beschrieb Eva-Maria Thoms vom Verein "Mittendrin", der sich als "Elternlobby für Inklusion" bezeichnet. "Es herrscht an den Schulen eine riesige Hemmschwelle gegenüber Kindern mit Behinderungen", sagte Thoms im Ausschuss. Das Bild, das sich viele von Menschen mit Behinderungen machten, sei falsch. "Menschen mit Behinderungen sind in erster Linie Menschen und nicht in erster Linie behindert", so Thom. Es komme immer noch sehr häufig vor, dass Lehrer diese Kinder aus ihren Klassen "abschieben" wollten. FDP und CDU rufen inzwischen immer lauter nach der Einrichtung sogenannter "Schwerpunktschulen", die bestens für den inklusiven Unterricht ausgestattet werden sollen. Andere Schulen könnten auf freiwilliger Basis Kinder mit Behinderungen in den Regelunterricht integrieren.

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