Samstag, 14. Januar 2017

Invasion der Memmen

Im Handarbeitsunterricht flog mir als etwa Vierzehnjährige einmal ein Wollknäuel um die Ohren. Präzise geworfen von der Lehrerin, der mein ständiges Getuschel mit der Tischnachbarin auf den Geist ging. Ich war kurz perplex, widmete mich dann aber artig meinem Kreuzstich. Wäre ich heute Schülerin, wäre ich wahrscheinlich traumatisiert von dem Ereignis, würde flugs den Schulpsychologen aufsuchen und zur seelischen Genesung zwei Wochen zu Hause bleiben. Eine Übertreibung? Nicht wirklich. 

Für die Generation Schneeflocke ist tatsächlich alles ganz unerträglich. Generation Schneeflocke ist die Bezeichnung für junge Menschen, die emotional sehr verletzlich sind, wenig belastbar und abweichende Meinungen als persönliche Herabwürdigung empfinden. Sie sehen es als ihr Grundrecht, von allen potentiell unangenehmen Dingen im Leben geschützt zu werden. Hochschulen sind Förderer dieser „Ich bin das Zentrum des Universums“-Haltung. Wie „The Telegraph“ vergangene Woche berichtete, führen immer mehr Universitäten in den USA und England zum Schutze der jungen Seelen Trigger Warnings ein, Warnhinweise bei Bildern oder Texten angesichts möglicher psychischer Belastungen. Der Begriff Trigger Warning stammt aus der Psychologie; mittels Vorwarnungen lassen sich bei Kriegsveteranen mit posttraumatischen Belastungsstörungen oder Opfern von Sexualverbrechen erneute Traumata vermeiden. 
Heute besitzt das Wort Trauma eine ganze neue Bedeutung: Weil sie „möglicherweise ein negatives Gefühl auslösen können“, warnt die Glasgow Universität laut der britischen Zeitung ihre Theologiestudenten vor „Bildern von Jesus‘ Kreuzigung“. Die Oxford Universität warnt ihre Jurastudenten vor „verstörendem Inhalt“ bei Lektionen, die sexuelle Gewalt betreffen. Veterinärstudenten werden vor toten Tieren gewarnt. Archäologiestudenten vor Skeletten. Die schottische Stirling Universität warnt bei Gender Studien: „Wir können nicht ausschliessen, dass Sie Material antreffen, das negative Reaktionen auslösen kann und bitten Sie, die nötigen Vorkehrungen zu treffen.“ Aufgewühlte Studenten dürfen die Lesung verlassen. (Sie können sich dann direkt in Safe Spaces zurückziehen, speziell eingerichtete Komforträume, die ihnen ein Gefühl der Geborgenheit geben sollen – noch so ein fragwürdiger Trend. Nach dem Trump-Schock schossen diese zeitgenössischen Kuschelzonen an US-Hochschulen laut „The Washington Post“ wie Pilze aus dem Boden). 
Die psychische Verfassung von Schneeflocken gerät auch ins Wanken, wenn jemand eine Ansicht vertritt, die seiner eigenen Weltanschauung widerspricht. Dann formieren sich Protestbewegungen, wie vor einigen Wochen gegen Professor Jordan Peterson von der Universität Toronto, der es wagte, auf die Gefahren der Political Correctness hinzuweisen. Oder sie stellen unliebsame Kontrahenten an den Pranger, bis diese ihren Posten von selbst räumen – wie im Fall des Yale Professoren-Ehepaars, das die Verbannung von „potentiell verletzenden“ Halloweenkostümen in Frage stellte und dafür als rassistisch und kulturell unsensibel gebrandmarkt wurde. Die totale Abschottung vor negativen Gefühlen, vor Konfrontationen, vor Reizen – immerhin gestattet sie den gebeutelten Seelen, sich ungestört ihren Instagram-Posts und dem Zelebrieren des persönlichen Opferstatus hinzugeben. Wer schützt uns eigentlich vor dieser Generation?  

Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag auch zuerst. In ihrer Rubrik „Tamaras Welt“ schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen

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