Dienstag, 21. Januar 2020

Lehramts-Studentin "packt aus": Ein Job mit 168 Stunden pro Woche – mit mir nicht!

Liebe Leserinnen und Leser,

bevor Sie sich der Lektüre dieser Mischung aus "Undercover-Reportage" und Selbstbemit-leidung einer NRW-Referendarin in Bayern hingeben, noch zwei Funfacts am Rande:
  1. Bayern ist das einzige Bundesland, das keine Quereinsteiger braucht, um seinen Lehrerbedarf zu decken (in NRW dürfen sogar Bachelorstudenten, also nicht mal halbfertige Lehramtsstudenten, als Lehrer arbeiten!)
  2. Bayrische Schüler liegen bei Leistungsvergleichen der Bundesländer stets in der Spitzengruppe (NRW pendelt zwischen Mittelmaß und roter Laterne!)
Insofern sagt der erste Satz des folgenden Textes ironischer Weise eigentlich schon alles...

"Wie kann es sein, dass Sie an einem bayerischen Gymnasium unterrichten dürfen? Sie haben doch nicht einmal ein Staatsexamen!“ Das war der erste Satz, den mein Fachbetreuer sagte, als wir meine erste Unterrichtsstunde besprechen wollten. Ich könne mit meinem Master doch nicht qualifiziert sein, meinte er: Mir fehlten schließlich die pädagogischen Studienanteile! Irgendwann ging mir auf, dass der Herr Studiendirektor anscheinend nicht wusste, dass das Lehramtsstudium außerhalb Bayerns mit einem Master abschließt. Wer in Bayern Lehrer werden möchte, dort aber nicht studiert hat, steht vor einigen Hürden: Er oder sie muss sämtliche Zeugnisse anerkennen lassen und natürlich die Formulare mit der fett gedruckten Überschrift „Außerbayerischer Bewerber“ ausfüllen. Ob die Examensnote dann später heruntergerechnet wird, hat mir seitens des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus niemand mitgeteilt; mein Betreuer indes war sich dessen sicher. 


Alles andere als ein Spaziergang 
Abgesehen davon, dass man als Lehreranfänger aus „Norddeutschland“ (für Bayern zählt auch NRW dazu) ohnehin kritisch beäugt wird, ist ein Referendariat wahrlich kein Spaziergang. Wöchentliche Hospitationen, Fachseminare, außerdem Seminare in Psychologie, Pädagogik, Schulkunde und Grundfragen staatsbürgerlicher Bildung, dazu kommen die ersten sechs Lehrversuche in den sechs Wochen bis zu den Herbstferien. Aussuchen darf man sich seine „Probeklassen“ nicht, sie werden festgelegt. Ebenso das genaue Datum und das Thema der Unterrichtsstunde. Ob man die Klasse auch schon vor der Unterrichtsstunde zu Gesicht bekommt, liegt im eigenen Ermessen: Während der Hospitationen „bastelt“ man sich seinen eigenen Stundenplan. Zu der (nicht einheitlich festgelegten) Anzahl von Hospitationsstunden und den Seminaren kommen Besprechungstermine für die eigenen Lehrversuche und die der anderen Referendarskollegen, die man auch besuchen muss. Der Umgangston reicht, je nach Betreuer, von „Haben Sie morgen für eine Besprechung Zeit?“ bis zu „Heute, fünfte Stunde, Besprechungsraum“ – ohne Fragezeichen. 

Leben am Ende der Nahrungskette 
Eine eigene Meinung ist nicht gefragt, kritische Nachfragen ebensowenig. Wer auf einen aufoktroyierten Termin-„Vorschlag“ mit einem schlichten „Nein“ antwortet, macht sich schnell unbeliebt. Gerade als Referendar (beziehungsweise Studienreferendar, wie es im streng hierarchischen Bayern heißt) steht man am unteren Ende der Nahrungskette. Unter Referendaren und Referendarinnen kursieren zahlreiche Horrorgeschichten über die Ausbildungszeit – nicht nur in Bayern. Auch in NRW klagen junge Lehramtsanwärter über Stress, die hohe Anzahl der bewerteten Unterrichtsbesuche und ein intransparentes Zweites Staatsexamen, dessen Endnote von der Prüfungskommission lediglich „mitgeteilt“ wird. Eine Begründung gibt es nur im Beschwerdefall. Dabei wird jedem künftigen Lehrer an der Uni jahrelang eingetrichtert, wie wichtig Transparenz bei der Notengebung sei. Wer sich auf die angeblichen Freiheiten im Lehrerberuf freut – freie Ferienzeit, selbstständige Unterrichtsplanung, Unterrichten nach unterschiedlichen Methoden und freie Zeiteinteilung –, erfährt im Referendariat schnell seine Grenzen. In Bayern erhält man zwar seine Verbeamtungsurkunde („auf Widerruf“) und damit die Aussicht auf Sicherheiten wie private Krankenversicherung, einen sicheren Arbeitsplatz, ein gutes Gehalt und später eine ordentliche Pension. Aber die Sicherheiten haben ihren Preis. 

Das Problem mit der Motivation 
Lehrer werden gesucht, die Unterrichtsqualität hängt ganz maßgeblich von der Lehrerpersönlichkeit ab, nicht etwa von der Klassengröße oder der technischen Ausstattung des Klassenzimmers. Studien wie etwa von dem australischen Bildungsforscher John Hattie haben das nachgewiesen. Das Problem: All diese Erkenntnisse kennt man als junger, engagierter Mensch aus der Uni oder aus der Zeitung. Aber wie soll man selbst motiviert etwas vertreten, was man möglicherweise kritisch hinterfragt, wie etwa das Schulsystem oder den Lehrplan? Mit solchen Fragen ist man während des zweijährigen Referendariats weitestgehend alleine. Auch damit, dass man in Bayern erst zirka vier bis sechs Wochen vor Schulstart erfährt, in welchem Winkel des flächenmäßig größten Bundeslandes man denn nun eingesetzt wird. Das Prozedere wiederholt sich nach einigen Monaten: Das zweite und dritte Halbjahr finden an einer zweiten Schule statt (der „Einsatzschule“). Aus der können aber auch schon mal zwei Schulen werden; das wären dann bis zu vier Umzüge, denn für das letzte der vier Halbjahre kehrt man an die erste Schule zurück. Bei der Auswahl des Einsatzorts für den jungen Lehrer in spe werden zwar „triftige Gründe“ berücksichtigt. Die Nähe zu Familie oder Freunden, dem vertrauten Umfeld oder einfach der Umstand, in München eine Wohnung gefunden zu haben, sind aber keine (sagt zumindest die Schulleitung). 

Vom Gefühl der Ohnmacht 
Kein Wunder, dass die anfängliche Motivation angesichts der vielen Einschränkungen und Unwägbarkeiten oft einem Gefühl von Ohnmacht weicht.  Der vermeintliche Sicherheitsstatus des Beamten wird dann eher als eine Art Sklavendasein wahrgenommen. Wer selbst gerne zur Schule gegangen ist, ihre Abläufe nicht in Frage stellt und zielstrebig studiert hat, mag sich mit dem System anfreunden können. Aber auch er oder sie kann einem nicht entgehen: dem Stress. Jede kommende Unterrichtsstunde muss in einer Wochenplanung vorab vorgelegt werden. An welchem Tag frage ich welchen Schüler vor versammelter Klasse ab (das ist in Bayern immer noch üblich, sogar verpflichtender Bestandteil einer jeden Stunde)? Welchen Einstieg wähle ich: ein Rätsel oder eine Bildbeschreibung? Wieviel Zeit habe ich für die Hausaufgabenbesprechung? Wieviel Zeit bleibt mir dann noch, um weiter zu übersetzen oder neue Grammatik durchzunehmen? Am Sonntag muss genau feststehen, was ich am Mittwoch mit der Klasse 8a tun werde: erst bis Zeile 15 übersetzen, dann als Hausaufgabe Seite 35, Aufgabe 2a. Die ganze Planung muss neu gemacht werden, wenn sich in der Stunde zuvor auch nur ein Tagesordnungspunkt verschiebt – vielleicht, weil ein Schüler gar völlig überraschend eine Frage stellt (jene Bürokraten, die so eine Planung einfordern, scheinen zu glauben, dass so etwas im Unterricht nicht vorkommt). 

Planen, Dokumentieren, Planen - wo bleibt der Unterricht? 
Selbstverständlich müssen alle Unterrichtsstunden nicht nur vorab schriftlich geplant, sondern auch dokumentiert werden: Phase, verwendetes Material, Arbeitsaufträge, Sozialformen, Kommentare, Hausaufgaben und jeweils veranschlagte Zeit. Dabei ist die Realität des späteren Unterrichts eine ganz andere. Kein erfahrener Lehrer plant jede einzelne Stunde derart akribisch: Er hat dafür schlichtweg keine Zeit. Als Referendar aber verbringt man die meiste Zeit nicht mit Inhalten oder damit, sich über den Einsatz neuer Methoden für den Unterricht Gedanken zu machen. Als Referendar verbringt man die meiste Zeit damit, alles zu dokumentieren: Unterrichtsstunden schriftlich in Verlaufsplänen, Seminare in Protokollen. Für die Seminare (also den Fachunterricht für die angehenden Lehrer) gilt dasselbe wie für die Verlaufspläne zur Unterrichtsvorbereitung. Einheitliche Vorgaben, die dem Referendar all die Bürokratie zumindest erleichtern könnten, gibt es nicht – weder für die Form noch für die Ausführlichkeit oder den Bearbeitungszeitraum. Das gibt den Referendar-Ausbildern (den „Seminarlehrern“) freie Hand zur Willkür. Bei den Protokollen geht es längst nicht darum, den Inhalt einer fürs Examen relevanten Sitzung zusammenzufassen, sondern um Formalia und Eitelkeiten. Manchmal will der eine oder andere Seminarlehrer dies und das gar nicht mehr so gesagt haben, wie es im Protokoll steht. Dann liegt das Dokument mit Rotstift korrigiert im eigenen Fach im Lehrerzimmer, und spätestens zu diesem Zeitpunkt fühlt sich der Referendar wieder wie ein Schüler. 

Persönlichkeit ist nicht gefragt 
Lehrer, die zugleich Persönlichkeiten sind, sucht in Deutschland keiner – die könnten dem Staat als Beamte später unangenehm werden. Für die Schüler wäre es vielleicht gut, Menschen als Lehrer zu haben, die auch mal etwas anderes als eine Uni oder Schule von innen gesehen haben. Wer zwei Jahre lang den Mund hält und sich sämtlichen Schikanen stumm unterwirft, wird mit Verbeamtung und lebenslanger Sicherheit „belohnt“. Wer zu viel kritisiert, zu viele Fragen stellt, wird vorgeführt und darauf hingewiesen, dass er sich einen „Vollzeit-Job ausgesucht“ habe, „neben dem für ein Privatleben kein Platz mehr“ sei. Die Seminarlehrerin betonte auch, sie könne „das Gefasel von der Work-Life-Balance nicht mehr hören“. An einer Diskussion mit uns Referendaren sei sie nicht interessiert. Wir sollten unsere Einstellung überdenken und unsere Prioritäten klären. 

Zwei Stunden Schlaf pro Nacht 
„Kein Privatleben nebenher“ – also 168 Arbeitsstunden pro Woche? Meine Kollegen haben das zum Teil schnell verinnerlicht. Aus fünf Zigaretten am Tag sind sieben in zwei Stunden geworden. Geschlafen wird in der Woche zwei Stunden pro Nacht, zum Ausgleich am Samstag komplett. Wochen zuvor getätigte Verabredungen können nicht eingehalten werden – weil den Seminarlehrern immer noch etwas Neues einfällt, das mal eben zu machen ist. Bereits nach vier Wochen habe ich mir gesagt, dass ich einer Firma, die so mit mir umginge wie der Staat es tut, umgehend kündigen würde. Der Druck, der von oben auf die jungen Lehrer ausgeübt wird, landet über kurz oder lang bei den Schülerinnen und Schülern. Jemand, der nicht wertgeschätzt wird für seine täglich anstrengende Arbeit in einem tollen, aber eben herausfordernden Beruf – wie sich so jemand gegenüber Kindern verhält, kann man sich denken. 

Vergrault von der Bürokratie 
Bei meinem Wunsch, Lehrerin zu werden, ging es mir immer um die Schüler, nicht um Bürokratie. Ich möchte nicht mehr täglich den Mund halten müssen. Ich ziehe die für mich einzig richtige Konsequenz, indem ich das Referendariat abbreche. Beruflich kann ich mich umorientieren – im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen, die abgesehen von Nachhilfestunden nie in einem anderen Bereich gearbeitet haben. Was in der Schule am schlimmsten war, kann ich gar nicht genau sagen. Aber eines weiß ich sicher: An den Kindern liegt es ganz und gar nicht, dass ich gehe.

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