Donnerstag, 31. Oktober 2024

"Wenn ich im 5. Schuljahr 30 Kinder in einer Klasse haben, dann machen von denen etwa 15 am Schluss Abitur" - ein Mathematiklehrer packt aus

Die Leistungen in Mathematik befinden sich seit Jahren im freien Fall. Dies belegen die von der OECD erhobenen PISA-Studien. Allein der Leistungsrückgang zwischen der PISA-Studie 2018 und 2022 entspricht einem ganzen Schuljahr. Dies gilt auch für den Bereich des Lesens in der deutschen Sprache. Deshalb stellt sich automatisch die Frage, ob die sprachlichen Defizite nicht auch einen negativen Einfluss auf die Leistungen in Mathematik nach sich ziehen. 
Mit Thomas Hechinger, Mathematiklehrer an einem Gymnasium in Baden-Württemberg, sprach Klaus Rüdiger (KONTRAFUNK) über die Folgen der sprachlichen Defizite für den Mathematikunterricht.

KONTRAFUNK: Einige Experten sprechen bei der Mathematik von einem eigentlichen Leistungs-Verfall. Wie stellt sich dieser Leistungsrückgang zunächst in der Mathematik aus Ihrer Perspektive, das heißt, aus der Sicht eines gymnasialen Lehrers?

HECHINGER: Ja, ich merke natürlich, dass die Schüler allgemein Probleme haben, sich zu konzentrieren, Informationen von mir aufzunehmen und aufeinander zu hören. Und dann ist es natürlich auch so, dass wir oftmals im Klein-Klein hängen bleiben und nicht zu den großen Gedanken kommen, weil wir auch in der zehnten Klasse noch einmal das Bruchrechnen wiederholen müssen. Ich muss dann wieder eingehen darauf, wie man Brüche addiert und subtrahiert, weil das einfach nicht da ist. Die Schüler können sich das nicht merken oder haben es vielleicht auch nie richtig verstanden. Das heißt, auch in mathematischen Elementarkenntnissen haben sie diese Defizite festgestellt, die ja eigentlich internalisiert sein müssten.

Die Themen, die Sie jetzt angesprochen haben, ja, das habe ich in Mathematik auch festgestellt. Die offizielle Bildungspolitik wirkt dem entgegen, indem sie einfach das Niveau absenkt. Die Begriffe, die verwendet werden, klingen alle fantastisch. Wenn man die Bildungspläne liest, heißt es, unsere Schüler können so viel wie noch nie. Leider verbirgt sich hinter den Begriffen oftmals nur ein ganz dünner Inhalt.

Und wie gehen Sie dann damit um, wenn Sie diese Defizite feststellen? Sie haben gesagt, Sie müssen mit kleinen Schritten arbeiten. Das heißt, Sie verlieren Zeit. Wie reagieren die Schüler dann darauf?

Was mir immer fehlt, ist die wirkliche Zeit zur Übung, weil man auch einen gewissen Stoffplan durchbringen muss. Ich würde sagen, die meisten Schüler können dem dann irgendwo noch folgen, aber es sind natürlich die eher schwächeren, die dann darunter leiden, dass die Übungsphasen fehlen. Und ganz ehrlich, eine Lösung, eine echte Lösung für dieses Problem sehe ich nicht. Geben Sie dann den Schülern mehr Hausaufgaben? Irgendwie muss man ja versuchen, diese Lücken zu schließen. Also ich versuche das immer im Unterricht, im Gespräch mit den Schülern. Wenn ich merke, da ist jetzt ein Defizit, gehe ich wieder neu durch, erkläre noch einmal kurz, male ein Bildchen, um auch in der zehnten Klasse zu zeigen, warum man beim Bruchrechnen einen gemeinsamen Nenner braucht. So versuche ich das zu machen: immer wieder Defizite aktuell aufzuarbeiten.

Ich könnte mir auch vorstellen, dass das eine Folge der Digitalisierung ist, dass gerade in Grundrechenarten oder beim Bruchrechnen oder in anderen mathematischen Bereichen hier tatsächlich Übung fehlt oder sogar Übung verloren gegangen ist. Wie sehen Sie das?

Ja, ich denke, dass das Handy, das Smartphone eine wesentliche Ursache für den Leistungs-Verfall ist. Stellen Sie sich mal vor, Sie stehen an einer Bushaltestelle und müssen so einen Aushangfahrplan lesen, wo die Stunden und die Minuten stehen. Wenn man das gar nicht mehr trainieren muss, so einen Plan zu lesen, so eine Struktur zu lesen, sondern einfach in seinem Smartphone fragt, wann fährt der Bus nach Hintertupfingen, und das Smartphone sagt einem das, dann ist man eben nicht mehr gezwungen, Strukturen zu lesen. In diesem Fall ist es so eine einfache Struktur wie ein Fahrplan. Und das ist jetzt nur ein Beispiel. Viele Dinge funktionieren nicht mehr, weil man nicht mehr planen muss, weil man nicht mehr kombinieren muss. Dieses wunderbare Gerät hat einem sofort scheinbar alle Aufgaben gelöst, und das wirkt sich, denke ich, auch in der Schule aus, in allen Fächern, auch in Mathematik.

Stellen Sie denn auch fest, dass die Schüler selbst darunter leiden, oder ist es ihnen lästig, wenn Sie dort intervenieren oder wenn Sie ihnen eine Hilfe anbieten, wie man das Ganze verbessern könnte?

Es gibt nicht den Schüler. Es gibt sicher Schüler, die darunter leiden, wenn man versucht, ein gewisses Anforderungsniveau zu halten. Aber es gibt auch Schüler, die einem hinterher dankbar sind. Wenn man sie dann vielleicht mal auf dem Abiball nach ein paar Jahren trifft, sagen sie: „Wie schön, dass wir das damals bei Ihnen so gemacht haben. Ich habe es später wieder verwenden können.“ Also den Standard-Schüler würde ich sagen, den gibt es so nicht. Wir haben heutzutage an der Schule ein riesiges Gefälle von Leistungsniveaus bei Schülern. Es gibt welche, die kaum dem Unterricht folgen können, und wir haben natürlich auch sehr begabte Schüler bei uns. Ich denke, als ich angefangen habe vor über 30 Jahren, war das noch nicht so weit gespreizt wie das heute ist.

Aber Sie unterrichten an einem Gymnasium. Da erwartet man doch eigentlich, dass man eher einen geringeren Anteil an sogenannten schwächeren Schülern vor sich hat?

Ja, das sollte man erwarten, aber das ist nicht mehr so. Man hat vor ein paar Jahren hier in Baden-Württemberg die Grundschulempfehlung aufgehoben. Das heißt, es war der allgemeine Wille der Politik, das allein ins Elternempfinden zu geben, ob man das Kind an ein Gymnasium schickt oder nicht. Das war meiner Meinung nach eine Fehlentscheidung, sicher nicht die einzige, aber darunter leiden wir natürlich bis heute. Es wird jetzt gerade wieder umgestellt, wenn ich richtig informiert bin. Es soll jetzt diese Grundschulempfehlung wieder kommen.

Darunter leiden aber auch sicherlich die Schüler, wenn sie die Leistung nicht erbringen können. Gibt es dann nicht eine relativ starke Durchfallquote oder Schüler, die dann das Gymnasium verlassen müssen?

Das ist so. Wenn ich das dann mal anspreche auf einem Elternabend, ja, die Wahrheit wird einfach nicht gerne gehört. Dann muss man sehr vorsichtig sein. Tatsächlich ist es so, dass ich damit rechnen kann, dass, wenn ich jetzt in der fünften Klasse, sagen wir, 30 Schüler habe, etwa 15 von denen am Schluss das Abitur machen. Das zeigt sich so über die Jahre hinweg. Das ist mein Erfahrungswert. Das ist wahrlich ein ziemlich dramatischer Dropout.

Jetzt möchte ich aber noch einmal auf die ganz unterschiedlichen Schüler zurückkommen. Was passiert denn mit den Schülern in der Mathematik, die sogenannten „Abgehängten“? Die gibt es ja auch. Die ruhen sich auf ihrer schlechten Mathematiknote aus, weil sie mit anderen Noten, die sie locker kompensieren können, daherkommen. Gibt es die bei Ihnen auch?

Die gibt es natürlich auch sehr oft. Es sind gewisse Fächer wie Mathematik oder auch die Sprache Französisch, die vielen Schülern sehr schwerfallen. Die haben früh auch schlechte Noten, wo eigentlich die Eltern sehen können: „Okay, das ist vielleicht doch nicht die richtige Schule für uns.“ Trotzdem kommen diese Schüler oftmals bis zur 7., 8. oder 9. Klasse, vielleicht sogar bis zur 10. Klasse, weil es halt Ausgleichsmechanismen gibt und sie in anderen Fächern dann vielleicht die 3 oder die 2 stehen haben, sodass diese Schüler dann natürlich oft weiterkommen. Sie fühlen sich ja natürlich nicht wohl, weil sie selber merken, dass sie überfordert sind. Natürlich mögen sie das Fach Mathematik aufgrund dieser Umstände nicht. Das kann man ja nachvollziehen.

Zeigen diese Ergebnisse aus den PISA-Studien, dass es sicher nicht nur auf Mathematik bezogen, dieser dramatische Abfall, sondern auch auf das Lesen, also die Sprachrezeption? Das spielt natürlich auch in Ihr Fach mit hinein, denn auch die Mathematik wird über Sprache vermittelt. Was haben Sie im Bezug auf diese sprachlichen Defizite bei Ihren Schülern feststellen müssen?

Ja, vielleicht kann ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, die noch nicht lange her ist, erst ein paar Wochen. Erste Stunde in einer fünften Klasse: Was macht man da als Mathelehrer? Man will ja auch eine Stunde machen, die so ein bisschen das Fach spannend macht, etwas Außergewöhnliches. Hätte ich irgendwelche Zahlenspielchen machen können? Dann habe ich mir gedacht, ich habe mal vor Jahren so ein Gedicht gesehen in einem Mathematikbuch. Da geht es um belebte und unbelebte Natur mit großen Zahlen. Vielleicht darf ich Ihnen die ersten sechs Zeilen da mal vorlesen. Das Gedicht ist aus „Des Knaben Wunderhorn“ und war früher mal in einem Mathematikbuch abgedruckt:

„Wie viel Sand in dem Meer, 

wie viel Sterne oben her, 

wie viel Tiere in der Welt, 

wie viel Heller unterm Geld, 

in den Adern wie viel Blut, 

in dem Feuer wie viel Glut.“

Es geht also um große Zahlen oder um Dinge, die mit großen Zahlen verbunden werden. Beim Lesen dieses Gedichts ist mir aufgefallen, dass Schüler an gewissen Wörtern gestockt haben. Dann habe ich einfach sicherheitshalber mal nachgefragt, was bedeutet eigentlich „Adern“? Keine Antwort. Die Schüler wussten nicht, was das Wort „Glut“ bedeutet. Einige Schüler wussten nicht, was das Wort „Hicken“ bedeutet. Als ich dann durch war, kam eine Schülerin und meinte zum Schluss: „Das sei ein Fehler im Gedicht“, und zwar in dem Satz: „Wie viel Tropfen in der See?“ Da müsste es heißen: „Wie viel Tropfen in dem See?“ Ich bin darauf eingegangen und habe gesagt: „Ja, es gibt beides: der See, die See. Was ist denn der Unterschied?“ Und kein Schüler wusste es.

Jetzt weiß ich nicht, ob, wenn meine Schule nicht im Südwesten Deutschlands wäre, sondern an der rauen Nordseeküste, ob das ein geringeres Problem wäre. Ich bin nur nach dieser Stunde einfach richtig geschockt gewesen, was für ein Sprachzerfall. Jetzt kommt also nicht nur, dass Sprachstrukturen nicht mehr verstanden werden, logische Verbindungen, Hauptsatz, Nebensatz, sondern dass jetzt auch wirklich konkrete Begriffe nicht mehr verstanden werden. Die Schüler wussten das nicht. Und ich sehe jetzt also sozusagen meine Aufgabe darin, nicht selber besser zu kontrollieren, wenn ich spreche, weil ich einfach damit rechnen muss, dass die Schüler diesen Satz jetzt nicht verstehen und dass ich den Schülern die Gelegenheit gebe, noch mal nachzufragen: „Ja, was bedeutet jetzt dieses und jenes Wort?“

Sind das hauptsächlich Schüler mit Migrationshintergrund in der Klasse, um die es jetzt geht?

In dieser Klasse sind ausnahmsweise relativ wenige Schüler mit Migrationshintergrund. Also das ist sicher ein sehr großes Problem, aber in dieser Klasse würde es also nicht zutreffen.

Jetzt würde ich aus der Sicht eines Schülers natürlich argumentieren und sagen: „Herr Hechinger, wir haben doch Mathematik und nicht Lyrik des 19. Jahrhunderts.

Ja, gut, das Wort „Lyrik“ würde der Schüler wahrscheinlich nicht verwenden und „19. Jahrhundert“ auch nicht, aber genau dieser Einwand kam tatsächlich von einem Schüler neulich mal.

Aber wir kennen natürlich alle die Textausgaben aus dem Mathematikunterricht. Die einen hassen sie, die anderen haben sie vielleicht sogar gelebt.“ Ich denke, hier ist das Sprachverständnis, also das, was Sie auch eben gerade schon angesprochen haben, die Sprachlogik wesentlich mehr gefordert. Wie sieht es dann bei diesem Aufgabentypus aus?

Also ich habe immer versucht, meinen Mathematikunterricht auch als Sprachunterricht im Bereich der Sprachlogik zu gestalten, damit die Schüler die Voraussetzung, die Behauptung eines Satzes erkennen und wissen, was aus was folgt. Aber um solche Strukturen zu verstehen, muss man in der eigenen Sprache einfach sicher sein. Wenn ich einen Gedanken verschwommen habe, muss ich Sprache haben, um diesem Gedanken eine Kontur zu geben. Nur dann kann ich ihn mit anderen Gedanken in Konkurrenz setzen, als Ausfluss eines anderen Gedankens oder als Gegen-gedanken. Wenn mir diese ganze Sprachlogik, aber auch die Wörter fehlen, dann gelingt das nicht mehr. Ich glaube, dass ein großer Teil der Schwierigkeiten, die wir im Fach Mathematik haben, an der fehlenden Sprachkompetenz in unserer Muttersprache liegen, also gar nicht ursächlich im eigentlichen Rechnen, in der Geometrie, in diesen ganzen mathematischen Prozessen.

Können denn die Schüler bis zum Abitur diese sprachlichen Defizite, die sich eben vor allem auf die Sprachrezeption beziehen, kompensieren? Läuft sich das aus oder schleppen die das bis zum Schluss mit?

Ja, wir haben ja gerade eben schon gesagt, dass viele Schüler in diesen 8 Jahren leider auf der Strecke bleiben und nicht bis zum Abitur kommen. In der Regel sind diejenigen, die die zehnte Klasse einigermaßen erfolgreich bestanden haben, die bestehen fast immer dann auch das Abitur. Aber es ist natürlich so, dass unser heutiges Abitur auch vom Niveau her einen wesentlich geringeren Anspruch hat. Viele Aufgabentypen, die man früher gemacht hat, die immer so in Richtung Beweisen gehen, argumentieren, das ist nur noch wenig vorhanden. Sagen wir, im Bildungsplan steht es immer noch drin, nur wird etwas anderes darunter verstanden. Es wird oft so verstanden, eine Rechnung auszuführen, die man irgendwie angesetzt hat. Und wenn das dann rauskommt, dann ist der Beweis erbracht. Früher hat man unter Beweisen etwas Tieferliegendes verstanden. Und wenn man Schüler auf so etwas trainiert, dann können die durchaus natürlich auch das Abitur in Mathematik einigermaßen bestehen.

Wir haben in Baden-Württemberg hier seit einiger Zeit wieder ein sogenanntes Leistungsfach. Das ist fünfstündig. Da sammeln sich dann die Schüler mit höherem Interesse an Mathematik. Und wir haben dann ein sogenanntes Basisfach, das ist dreistündig, wo halt eben die Grundlagen gelegt werden sollen für die Mathematik. Ja, ich darf jetzt nicht aus Abiturprüfungen erzählen, aber es ist manchmal dramatisch, was man da erlebt. Glücklicherweise gibt es noch andere Fächer, wo die Schüler solche Defizite in Mathematik sozusagen damit ausgleichen können.

Sehe ich das richtig, dass auch in Hinblick auf das Abitur bei diesen Prüfungen immer stärker auch Textaufgaben eingesetzt werden?

Ich weiß es nicht genau, was Sie unter Textaufgaben verstehen. Sehr oft ist es so, dass man versucht, eine Scheinschwierigkeit zu erzeugen, indem ein verschwurbelter Text erst entschlüsselt werden muss vom Schüler, der mathematische Inhalt dann aber nicht besonders groß ist. Also manchmal wird mit solchen Tricks versucht, ein gewisses Anforderungsniveau vorzutäuschen. Das Anforderungsniveau ist dann halt eben: Wie finde ich jetzt aus diesem verschachtelten Text meine mathematischen Informationen heraus? Und dann am Schluss sage ich jetzt mal, meine quadratische Gleichung lösen zu können.

Ja, genau, das ist meine Vermutung gewesen. Ich hatte auch solche Aufgaben gesehen, die allein mit dem reinen Textverständnis eigentlich dann und auch einer gewissen sprachlichen Gewandtheit gelöst werden können, so wie Sie es gerade sagen: eben dann ohne vertieftes mathematisches Wissen hier ein einigermaßenes Ergebnis geliefert werden kann. Wenn man sich jetzt vorstellt, was Sie am Anfang gesagt haben, die großen Konzentrationsschwierigkeiten, dann kommen hier ja wirklich ein ganzes Bündel an Aufgaben hinzu, die dann erklären, dass wirklich fast 50% dann den ursprünglich geplanten Weg bis ins Abitur nicht erreichen können.

Wobei ich nicht weiß, Herr Rüdiger, ob das nicht eigentlich fast schon immer so war. Vielleicht waren es keine 50%, vielleicht waren es nur 35%. Aber seit ich eigentlich unterrichte, war es immer ein hoher Prozentsatz an Schülern, die im Laufe dieser acht oder früher waren es 9 Jahre, von der Schule gegangen sind, auf eine Realschule gewechselt haben oder auf ein anderes Gymnasium gewechselt haben. Also das ist jetzt nicht ganz neu. Es ist vielleicht in dieser Zahlenmenge, dass es wirklich so 50% sind, relativ neu. Vielleicht, ja, aber ich denke, auch wenn es 30% sind, muss man doch eigentlich einen Systemfehler feststellen.

Deshalb möchte ich Sie abschließend gerne noch fragen: Unsere Sendung heißt „Lehrerzimmer“, und hier im Lehrerzimmer sprechen wir offen alle Probleme an. Wie sieht es aber in Ihrer Schule, in Ihrem Lehrerzimmer aus? Sind das Diskussionen, die da wirklich ernsthaft geführt werden?

Also man kann mit Kollegen schon ernsthaft über diese Probleme diskutieren und sprechen, wenn man in einem kleinen Rahmen sich irgendwie gerade im Lehrerzimmer trifft. Sobald das Ganze einen offiziellen Rahmen bekommt, irgendeinen Konferenztyp, irgendeine Fortbildung, irgendeinen besonderen Tag, wo sich Lehrer zu Konferenzen treffen, ist das nicht mehr möglich. Die Lähmung, die über unserem Land liegt in der politischen Diskussion, die liegt auch über den Lehrerzimmern. Sobald es, wie gesagt, einen offiziellen Charakter hat, wenn man dann versucht, mal so etwas anzusprechen. Ich habe auch schon gelegentlich gesagt: „Ja, wir sollten uns vielleicht nicht um diese Luxusthemen kümmern, sondern uns mal z.B. mit dem Thema Migration beschäftigen. Was können wir tun, um uns vorzubereiten auf die Situation, die noch schwerer, noch schwieriger werden wird, als sie jetzt zur Zeit ist?“ Ja, da erntet man dann einfach nur Schweigen. Wenn man Glück hat, sagt der Konferenzleitende dann noch: „Vielen Dank für Ihren Wortbeitrag.“ Also die Angst, da etwas Falsches zu sagen, vielleicht in eine falsche Schublade gestellt zu werden, die ist bei den Lehrern schon sehr groß. Es kann dann aber passieren, dass man zwei Tage später auf dem Weg zur Toilette von einem Kollegen angesprochen wird, der dann sagt: „Du, was du da neulich gesagt hast, das sehe ich genauso wie du.“ Und wenn ich dann sage: „Ja, und warum sagst du da nichts?“, dann will ich jetzt mich mal lieber nicht aus dem Fenster hängen. Das ist leider so in Deutschland, ja, und auch in den Lehrerzimmern dieses Landes.

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