Mittwoch, 8. Januar 2014

Hightech im Klassenzimmer

Oberstufenschüler brauchen bald ein teures Mathe-Hilfsmittel - Experten rätseln, warum

Ina Schumacher erfuhr auf einem Elternabend, dass sie bald mehr Geld in den Mathematikunterricht ihrer Tochter Lisa investieren muss. Die 16-Jährige Lisa geht in die zehnte Klasse der Freien Waldorfschule in Köln und steht kurz vor einer Anschaffung. Laut Runderlass des Schulministeriums vom Juni 2012 muss jeder Schüler ab Klasse 10 in NRW vom nächsten Schuljahr an einen grafikfähigen Taschenrechner benutzen (siehe Kasten). Ab 2017 werden die Geräte auch im Zentralabitur eingesetzt. Kosten: je nach Modell 70 bis 100 Euro, zahlen müssen die Eltern. "Ich bin überrascht, dass so ein Erlass möglich ist, ohne dass die Eltern einbezogen werden", sagt Ina Schumacher. "Auch die Lehrer wurden offenbar erst nach und nach aufgeklärt und müssen das nun positiv an die Eltern verkaufen." Der Mathelehrer ihrer Tochter etwa sei "kreuzunglücklich" darüber, dass seine Schüler das neue Gerät anschaffen müssten. 
 Marktführer Casio freut sich über die neue Pflicht-Anschaffung im bevölkerungsreichsten Bundesland. Neben dem US-Unternehmen Texas Instruments gehört der japanische Konzern zu den wenigen Firmen, die Grafik-Taschenrechner herstellen. "Wir gratulieren dem Ministerium in NRW zu dieser sinnvollen Entscheidung", postete Casio kurz nach Veröffentlichung des Erlasses auf seinem Google-Plus-Profil. Casio-Sprecher Jörg Reddmann geht davon aus, "dass sich die Mehrheit der zirka 1200 betroffenen Schulen - das sind etwa 100 000 Schüler pro Schuljahrgang - für Casio-Grafikrechner entscheiden". Zuvor hatte der Konzern, dessen Umsatz auf 2,2 Milliarden Euro geschätzt wird, massiv für die Nutzung der Hilfsmittel im Unterricht geworben. Sowohl Casio als auch Texas Instruments waren in den vergangenen Jahren regelmäßig als "Partner" von Mathematik-Kongressen in NRW präsent. Als das Schulministerium von 2003 bis 2007 in 30 Pilotschulen den Einsatz von Grafikrechnern im Unterricht testete, stellte Casio pro Schule zwei Klassensätze zur Verfügung. 
 Auch in Publikationen der Lehrerverbände konnten die Unternehmen ihre Produkte platzieren. "Mehr Zeit für anschaulichen Mathematikunterricht" war 2010 eine Pressemitteilung überschrieben, in der - anlässlich einer von Casio in Auftrag gegebenen Umfrage - für den Einsatz der neuen Rechner geworben wurde. "Grafikrechner übernehmen zeitraubende Rechenschritte", heißt es darin. "So bleibt Lehrern mehr Raum, ihren Mathematikunterricht anschaulich zu gestalten." Zweifel am Einsatz der Geräte hegten laut Casio-Studie "vor allem Ältere" und Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss. Die Pressemitteilung erschien 2010 ungekürzt und samt dem Schlusssatz "Casio bietet mit seinen Grafikrechnern die passenden Lehrmittel für einen anspruchsvollen Mathematikunterricht" in "Bildung aktuell", der Zeitschrift des Philologenverbands NRW - und zwar im redaktionellen Teil. Darauf hingewiesen, kann sich Peter Silbernagel, der Vorsitzende des Verbands, den Abdruck nicht erklären. Zumal er selbst die Einführung der Rechner ablehnt. "Meine Skepsis wird von vielen Kollegen geteilt", sagt der Mathelehrer. Er frage sich: "Welchen Sinn hat es, dass die Schüler ein Instrument an die Hand bekommen, bei dem nur etwas eingegeben und der Weg zum Ziel nicht gesehen wird?" 
Tatsächlich steht der Verbandschef mit seiner Skepsis nicht alleine. Während sich einige Fachlehrer auf die neuen Möglichkeiten freuen, halten viele andere die Geräte für unnötig. "Ich sehe den Mehrwert nicht", sagt etwa Peter Scholl, Mathelehrer am Albert-Einstein-Gymnasium in Sankt Augustin. Seiner Einschätzung nach erhoffe man sich von den Geräten, "vereinfacht gesagt, eine Art Excel-Kalkulation im Unterricht möglich zu machen". Aber so etwas könne man im Zweifel auch mit einem Computer machen. "Dafür brauchen die Schüler nicht täglich einen teuren Taschenrechner mit in die Schule bringen." 
Das Schulministerium NRW teilt solche Einwände nicht. "Der Gebrauch von grafikfähigen Taschenrechnern erlaubt eine Entlastung von kalkülorientierten Routineberechnungen und eine schnelle Visualisierung von Graphen", teilt man schriftlich mit. Die Hilfsmittel ermöglichten "einen kreativen Umgang mit mathematischen Fragestellungen" und seien deshalb "eine erhebliche Erweiterung unterrichtlicher Möglichkeiten". Die Gefahr, dass durch das Überspringen von Rechenschritten das eigenständige Rechnen verkümmere, sei unbegründet: "Der Lehrplan sieht vor, dass Schüler ergänzend Aufgaben auch hilfsmittelfrei lösen können." Die erwarteten Kosten von "unter 100 Euro" müssten die Eltern selbst tragen, da die Handrechner keine Lernmittel im Sinne des Schulgesetzes seien. Die Schulen habe man schon über Finanzierungsmodelle informiert: "Dazu gehören Ausleih- und Leasingverfahren oder Unterstützung durch Fördervereine." Zudem böten viele Gerätehersteller "Sozialprogramme" an. 
Diese sogenannten Sozialprogramme sehen viele Eltern allerdings kritisch. NRW ist nicht das erste Bundesland, das Grafikrechner verbindlich einführt. In Niedersachsen, Sachsen und Baden-Württemberg sind die Geräte im Matheunterricht der Sekundarstufe II schon Pflicht. Auch dort gab es Kritik von Elternseite, in Thüringen zog 2011 ein Vater von acht Kindern sogar gegen die Anschaffung eines 105 Euro teuren Rechners vor Gericht. Es sei falsch, sozial schwache Familien auf ein Sponsoringmodell der Unternehmen zu verweisen, das nichts weiter sei als ein "Marketingmodell", hatte der Kläger argumentiert. Man könne Schülern nicht zumuten, "ihre Einkommensverhältnisse gegenüber einem nicht legitimierten Gremium zu offenbaren". Die Klage des Vaters lehnte das Verwaltungsgericht Gera trotzdem als unbegründet ab: Es liege in diesem Fall in der Freiheit des Staates, neue Lehrmittel einzuführen. Diese Niederlage nimmt auch Kritikern im Rheinland den Wind aus den Segeln. Die Schulpflegschaft des Antoniuskollegs Neunkirchen-Seelscheid etwa hatte im September 2013 eigentlich geplant, eine Unterschriftenaktion gegen die Pflichtanschaffung zu starten. "Nach einigen Gesprächen mit der Landeselternschaft und Juristen haben wir uns aber entschlossen, keine Aktivitäten in dieses Thema zu investieren", sagt Pflegschaftsvorsitzende Gabriela Schäfer. "Die Chance, dass wir durchkommen, ist einfach zu gering."

Quelle: Kölnische Rundschau vom 08.01.2014

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