Mittwoch, 23. März 2016

Zu unreif für die Reifeprüfung?

Köln. Bis zu 200 aufeinander losgehende Schüler, zwei Schwerverletzte - die Gewaltexzesse rund um das Kölner Humboldt-Gymnasium vor einer Woche werfen einen Schatten auf den Abiturjahrgang 2016. Die Oberbürgermeisterin der Domstadt, Henriette Reker, bringt auf den Punkt, was viele denken: „Früher sprach man von einem „Reifezeugnis“, hier aber ist die Unreife offenkundig.“ Auch Bildungsexperten denken darüber nach, was bei diesen speziellen Abiturienten in spe schiefgegangen ist und ob es gar einen Fehler im System gibt. Stichwort: gymnasiale Schulzeitverkürzung - G8 statt G9, 12 statt 13 Jahre bis zum Abi. 

So fragt der Vorsitzende des Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, angesichts der Kölner Randale nach Auswirkungen der in manchen Bundesländern schon wieder zurückgedrehten Reform: „Vielleicht liegt es ja auch daran, dass die Schüler bei der Reifeprüfung mittlerweile zu jung sind. Dass G8-Schüler teilweise schon mit 17 ihr Abi machen, hat die persönliche Reife sicher nicht befördert.“ Bei böse aus dem Ruder laufenden Abi-„Scherzen“ empfiehlt Meidinger im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur härtere Strafandrohungen. „Die schlimmste Sanktion wäre natürlich ein Vermerk im Abiturzeugnis, dass es da gewisse Vorfälle in der Schullaufbahn gab.“ Seit dem G8-Start vor rund 15 Jahren werden die Ergebnisse mit Spannung beobachtet - auch von der Wissenschaft. So fand das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kürzlich heraus, dass die Reform das Durchschnittsalter der Abiturienten statistisch um 10,3 Monate reduziert hat. Bei einer Einschulung mit fünf Jahren ist ein Schüler - und das gar nicht so selten - beim Abi gerade mal 17, also noch nicht einmal volljährig. Den Eindruck einer erfahrenen Gymnasiallehrerin, dass „in dieser Lebensphase ein Jahr eine ganze Welt bedeuten kann“, bestätigt der Bildungsforscher Marko Neumann. „Im jungen Erwachsenenalter kann ein Jahr schon viel sein.“ Allerdings lasse sich persönliche Reife nunmal kaum messen. „Es gibt natürlich die Klagen von Hochschullehrern, dass Abiturienten, die jetzt in die Hörsäle strömen, unreifer sind. Aber empirisch belastbar ist das nicht“, sagt der Abitur-Experte des renommierten Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) im dpa-Gespräch. „Extrovertiert, aber emotional weniger stabil“ Eine andere Studie des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) untersuchte Datenmaterial von 2005 bis 2012 - mit dem Ergebnis, „dass G8 extrovertiertere, aber emotional weniger stabile Abiturienten hervorbringt“. DIPF-Experte Neumann warnt allerdings davor, aus solchen Erkenntnissen für Fälle wie Köln zu viel abzuleiten: „Es gibt doch auch gesamtgesellschaftliche Aspekte. Jugendliche wachsen heute anders auf als früher, auch so verändern sich Persönlichkeitsmerkmale. Es ist also schwierig, nun alles auf den Faktor Schulzeitverkürzung zurückzuführen.“ Auch Kölns Oberbürgermeisterin Reker spricht im Zusammenhang mit den Vorgängen der vorigen Woche von „Wohlstandsverwahrlosung“. Hat denn der von Schülern und Eltern beklagte Stress durch eine komprimierte Gymnasialzeit bei ähnlichen Inhalten tatsächlich zugenommen? Es gebe „klare Hinweise, dass sich größere Belastungen bei G8-Schülern zeigen“, sagt Neumann. Als Ausrede fürs Ausflippen beim Feiern vor oder nach dem Abi sei der G8-Stress gleichwohl völlig inakzeptabel. Das habe „nichts mit Schulzeitverkürzung zu tun. Nein, die G8-Frage spielt da keine Rolle.“ Nicht erst mit den Kölner Ausschreitungen - einer sehr speziellen Gymnasial-Folklore - wird über Sinn und Unsinn von Abi-Jux, über „Mottowochen“ und Saufgelage vor Abschlussprüfungen diskutiert. Die Bonner Kulturwissenschaftlerin Katrin Bauer sagt im dpa-Gespräch, „dass die Abi-Gags in den vergangenen Jahren stärker reglementiert wurden durch die Schulen, auch aufgrund von Vorfällen mit Alkohol. Abiturienten mussten teilweise richtige Verträge unterschreiben und wurden haftbar gemacht für eventuelle Schäden. Teilweise wurden Abi-Gags verboten oder abgesagt.“ Die Schüler des für seine pädagogische Arbeit preisgekrönten bayerischen Gymnasiums Olching trugen deswegen im vorigen Juni symbolisch „den Abi-Streich zu Grabe“. Begründung: „Erst wurde uns verboten, Abi-Plakate aufzuhängen, dann durften wir am Tag vor dem Abi-Streich nicht auf dem Sportplatz übernachten. Dann verbot man uns sogar noch das Verwenden von Wasserspritz-Pistolen - eine uralte Tradition!“ An anderen bayerischen Gymnasien registrierten Schulleiter hingegen, dass viele Schüler wegen der anstrengenden Prüfungen zu erschöpft für Abi-Scherze waren. Bildungsforscher Neumann fände eine solche Entwicklung „ein Stück weit schade, weil es ja ein Teil der Schultradition ist. Man kann nur hoffen, dass bei künftigen Abi-Generationen für moderate, kreative Scherze noch genügend Kraft ist.“

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