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Dienstag, 13. Februar 2024
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Donnerstag, 1. Februar 2024
Lehrer/innen nur noch Coach oder Lernbegleiter/in?
ein Kommentar von Christina Rüdiger (KONTRAFUNK)
Peter Fratton ist ein radikaler Verfechter des individualisierenden Lernens.
Seine Positionen fließen seit 20 Jahren in den Bildungsdiskurs ein und gelten
für viele als richtungsweisend. Er sagt: Wenn gleichaltrige Schüler beim
gleichen Lehrer zum gleichen Zeitpunkt im gleichen Zimmer mit dem gleichen
Lehrmittel das gleiche Ziel erreichen müssen, so wird das dem Einzelnen nicht
gerecht. Wir haben solche, die unterfordert sind und sich langweilen, und
solche, die gar nicht nachkommen.
Karlheinz Dammer, Professor für allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen
Hochschule Heidelberg, hat sich in dem von ihm herausgegebenen Buch
"Pädagogisches Neusprech" mit dem Begriff der Individualisierung
kritisch auseinandergesetzt. Er sagt, die sogenannte neue Lernkultur ist im
Grunde ein Trojanisches Pferd im reformpädagogischen Gewand. Sie ist ein
neoliberales Vehikel. Schauen wir uns die vermeintlich neue Lernkultur also
genauer an. Beim individualisierenden Unterricht muss der Klassenverband
aufgebrochen werden. Schulzimmer darf es nicht mehr geben. Dafür gibt es
Lernlandschaften, Lernumwelten, Lernateliers. Aus Klassenkameraden werden
Lernpartnerinnen. Mal lernen die Schüler mit den einen, mal mit den anderen
oder ganz allein. Lernen erfolgt selbstgesteuert, es werden Lernjobs erledigt.
Der Lehrer ist nur noch Coach oder Lernbegleiter. Er steht zur Verfügung, er
macht Lernangebote, aber nur auf Wunsch wichtig. Ja, zentral wird das
selbstgesteuerte Individuum. Wir lesen Begriffe wie Selbstkompetenz, Selbstregulierung,
Selbstmanagement. Wie Dammer aufzeigt, sind sie aus der Managementsprache
übernommen.
Und wie wird der Lernerfolg überprüft? Dammer weist nach, die Instrumente
sind aus dem betrieblichen Qualitätsmanagement entnommen:
Selbsteinschätzungsbögen, Feedbacks, Zielvereinbarungen. Der Schüler arbeitet
an Modulen, die ihm sein Coach ganz individuell zusammengestellt hat. Will er
vorwärts kommen, muss er die Module abarbeiten. Zusammenhänge, wie sie sich den
Schülern im gemeinsamen Klassengespräch erschließen können, so nicht erfasst
werden. Das ist auch nicht erwünscht. Gegebene Kompetenzen müssen trainiert
werden. Literarische Werke wie Goethe und Schiller? Nice to, aber man braucht
sie nicht, weil sie nicht unmittelbar anwendbar, verwertbar, messbar sind. Der
Schüler wird so zu einem durch und durch überprüfbaren Bündel von Fertigkeiten.
Er wird zur permanenten Selbstkontrolle äußerlich auferlegter Pflichten gedrillt.
Dammer sagt, das selbstgesteuerte Lernen ist nur ein Schein von Freiheit und
Selbstbestimmung. Von Erziehung, wie wir sie früher von unseren Lehrern
kannten, ist keine Rede mehr. Sie wird in diesem Kontext negativ als
Beschneidung der Persönlichkeit abqualifiziert. Hören wir uns dazu die vier
Urbitten des Schweizer Schulreformers und Individualisierungsapologeten Peter
Fratton an: "Bring mir nichts bei, erkläre mir nicht, erziehe mich nicht,
motiviere mich nicht!"
Als wäre Erziehung und Klassenunterricht häufig mit dem militärisch klingenden Begriff Frontalunterricht abgewertet, als wäre also das gemeinsame Lernen in der Klassengemeinschaft eine Vergewaltigung der Individualität, als wäre die instruktive Tätigkeit des Lehrers eine Bevormundung, ein Zwang, der die Eigenaktivität des Lernenden verkümmern lässt oder gar verhindert. In Wirklichkeit führt das nicht zur Befreiung der Individualität, sondern zu Beziehungs- und Bindungslosigkeit. Zurück bleibt ein auf sich selbst gestelltes, auf verschiedene Weise einsetzbares Individuum, ein Kind, das, wenn es nicht komplett untergeht, bestenfalls Kompetenzen erworben hat, aber ungebildet im wahrsten Sinne des Wortes. Ihm fehlen die Zusammenhänge, sowohl in der historischen als auch in der kulturellen Tiefe. Kurz: Begriffe wie Erziehung und Bildung tauchen nicht mehr auf. Das neue Ziel sind ökonomisch anpassungsfähige Individuen, jederzeit und an jedem Ort einsetzbar, bereit, den Beruf mehrfach zu wechseln, möglichst isoliert von jeglichen menschlichen Bindungen. Individualisierung, ein trojanisches Pferd mit wohlklingenden Begriffen, soll die Schule radikal umgebaut werden. Ziel ist nicht die Befreiung des Kindes, sondern seine Präparierung für den globalisierten Arbeitsmarkt.
Finnland - vom PISA-Sieger zum Problemfall
KURZZUSAMMENFASSUNG:
Chaos im Bildungssystem
Ratut kritisiert die mangelnde Struktur im Unterricht und das Fehlen klarer
Leistungsanforderungen. Sie beschreibt, dass die Kinder nicht dazu angehalten
werden, ordentlich oder diszipliniert zu arbeiten. Stattdessen wird ein Konzept
des "Lernens ohne viel Anleitung" propagiert, das in der Praxis
jedoch nicht zu funktionieren scheint.
Lehrer als Autorität
Ratut hebt hervor, dass die Rolle des Lehrers in Finnland herabgestuft
wurde. Lehrer werden duzend angesprochen, was ihrer Meinung nach die Autorität
der Lehrkräfte untergräbt und zu einem unruhigen Klassenraum führt.
Ideologisierung der Bildung
Ein weiterer Kritikpunkt ist die Überhandnahme ideologischer Inhalte im
Unterricht, die oft zugunsten von Faktenwissen vernachlässigt werden. Ratut
fordert, dass die Schule sich wieder auf die Vermittlung harter Bildungsinhalte
konzentriert, anstatt ideologische Ansätze zu propagieren.
HIER das vollständige Gespräch: