Donnerstag, 1. Februar 2024

Lehrer/innen nur noch Coach oder Lernbegleiter/in?

ein Kommentar von Christina Rüdiger (KONTRAFUNK)

Jeder Mensch, jedes Kind ist etwas Einzigartiges, etwas Besonderes. Das würde niemand bestreiten. Doch muss es deshalb aus dem Klassenverband herausgenommen werden? Braucht es eine sogenannte neue Lernkultur, damit sich das Kind mit seinen ganz speziellen Fähigkeiten vollumfänglich entfalten kann? Ja, sagen uns die Verfechter des individualisierenden Unterrichts. Sie behaupten, bis er kannte man die Schule, den Lehrer, die Schüler und den Lernstoff, der sich aus dem Lehrplan ableiten ließ. Die Schüler trafen sich im Klassenverband, sie lernten gemeinsam. Der Lehrer stand vorne und vermittelte den Stoff. Das soll vorbei sein, so der Tenor der modernen Bildungstheoretiker.

Peter Fratton ist ein radikaler Verfechter des individualisierenden Lernens. Seine Positionen fließen seit 20 Jahren in den Bildungsdiskurs ein und gelten für viele als richtungsweisend. Er sagt: Wenn gleichaltrige Schüler beim gleichen Lehrer zum gleichen Zeitpunkt im gleichen Zimmer mit dem gleichen Lehrmittel das gleiche Ziel erreichen müssen, so wird das dem Einzelnen nicht gerecht. Wir haben solche, die unterfordert sind und sich langweilen, und solche, die gar nicht nachkommen.

Karlheinz Dammer, Professor für allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, hat sich in dem von ihm herausgegebenen Buch "Pädagogisches Neusprech" mit dem Begriff der Individualisierung kritisch auseinandergesetzt. Er sagt, die sogenannte neue Lernkultur ist im Grunde ein Trojanisches Pferd im reformpädagogischen Gewand. Sie ist ein neoliberales Vehikel. Schauen wir uns die vermeintlich neue Lernkultur also genauer an. Beim individualisierenden Unterricht muss der Klassenverband aufgebrochen werden. Schulzimmer darf es nicht mehr geben. Dafür gibt es Lernlandschaften, Lernumwelten, Lernateliers. Aus Klassenkameraden werden Lernpartnerinnen. Mal lernen die Schüler mit den einen, mal mit den anderen oder ganz allein. Lernen erfolgt selbstgesteuert, es werden Lernjobs erledigt. Der Lehrer ist nur noch Coach oder Lernbegleiter. Er steht zur Verfügung, er macht Lernangebote, aber nur auf Wunsch wichtig. Ja, zentral wird das selbstgesteuerte Individuum. Wir lesen Begriffe wie Selbstkompetenz, Selbstregulierung, Selbstmanagement. Wie Dammer aufzeigt, sind sie aus der Managementsprache übernommen.

Und wie wird der Lernerfolg überprüft? Dammer weist nach, die Instrumente sind aus dem betrieblichen Qualitätsmanagement entnommen: Selbsteinschätzungsbögen, Feedbacks, Zielvereinbarungen. Der Schüler arbeitet an Modulen, die ihm sein Coach ganz individuell zusammengestellt hat. Will er vorwärts kommen, muss er die Module abarbeiten. Zusammenhänge, wie sie sich den Schülern im gemeinsamen Klassengespräch erschließen können, so nicht erfasst werden. Das ist auch nicht erwünscht. Gegebene Kompetenzen müssen trainiert werden. Literarische Werke wie Goethe und Schiller? Nice to, aber man braucht sie nicht, weil sie nicht unmittelbar anwendbar, verwertbar, messbar sind. Der Schüler wird so zu einem durch und durch überprüfbaren Bündel von Fertigkeiten. Er wird zur permanenten Selbstkontrolle äußerlich auferlegter Pflichten gedrillt. Dammer sagt, das selbstgesteuerte Lernen ist nur ein Schein von Freiheit und Selbstbestimmung. Von Erziehung, wie wir sie früher von unseren Lehrern kannten, ist keine Rede mehr. Sie wird in diesem Kontext negativ als Beschneidung der Persönlichkeit abqualifiziert. Hören wir uns dazu die vier Urbitten des Schweizer Schulreformers und Individualisierungsapologeten Peter Fratton an: "Bring mir nichts bei, erkläre mir nicht, erziehe mich nicht, motiviere mich nicht!"

Als wäre Erziehung und Klassenunterricht häufig mit dem militärisch klingenden Begriff Frontalunterricht abgewertet, als wäre also das gemeinsame Lernen in der Klassengemeinschaft eine Vergewaltigung der Individualität, als wäre die instruktive Tätigkeit des Lehrers eine Bevormundung, ein Zwang, der die Eigenaktivität des Lernenden verkümmern lässt oder gar verhindert. In Wirklichkeit führt das nicht zur Befreiung der Individualität, sondern zu Beziehungs- und Bindungslosigkeit. Zurück bleibt ein auf sich selbst gestelltes, auf verschiedene Weise einsetzbares Individuum, ein Kind, das, wenn es nicht komplett untergeht, bestenfalls Kompetenzen erworben hat, aber ungebildet im wahrsten Sinne des Wortes. Ihm fehlen die Zusammenhänge, sowohl in der historischen als auch in der kulturellen Tiefe. Kurz: Begriffe wie Erziehung und Bildung tauchen nicht mehr auf. Das neue Ziel sind ökonomisch anpassungsfähige Individuen, jederzeit und an jedem Ort einsetzbar, bereit, den Beruf mehrfach zu wechseln, möglichst isoliert von jeglichen menschlichen Bindungen. Individualisierung, ein trojanisches Pferd mit wohlklingenden Begriffen, soll die Schule radikal umgebaut werden. Ziel ist nicht die Befreiung des Kindes, sondern seine Präparierung für den globalisierten Arbeitsmarkt.

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