Mindestens zehn Jahre wird es dauern, bis wieder einigermaßen gut ausgebildete Jugendliche aus unseren Schulen kommen, sagt Olaf Köller, 61, vom Leibniz-Institut für Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel. Und er stellt eine steile These auf: Bis dahin müsse Deutschland auf künstliche Intelligenz und ausländischen Fachkräften setzen, um die Wirtschaft aufrechtzuerhalten.
Die Schüler werden immer schlechter, ein Drittel aller Neuntklässler würde den Realschulabschluss nicht mehr schaffen. Was ist da los an unseren Schulen?
Ein Kernproblem ist die Sprache. Nach den Flüchtlingswellen aus dem Nahen Osten und Nordafrika 2015 und 2016 sowie der Flüchtlingswelle aus der Ukraine 2022 haben wir zu viele Schülerinnen und Schüler, die zu geringe Deutschkenntnisse haben, um in der Schule mitzukommen. Dazu kommen die Nachwehen von Corona, aber das würde ich nicht überbewerten. Problematischer ist, dass viele Lehrkräfte einen Unterricht machen, der nicht mehr zu den Jugendlichen passt.
Ach, die Lehrer sind schuld?
Was heißt „schuld“? Wir haben Ergebnisse, dass der Unterricht oft weder aktivierend noch motivierend für Schülerinnen und Schüler ist. Das haben wir 2022 schon bei der Pisa-Studie gesehen. Dort kam raus, dass Jugendliche vom Fach Mathematik überhaupt nicht begeistert sind. Viele von ihnen verbinden Mathe mit Langeweile und Müdigkeit. Ein Grund mag sein, dass wir heute mehr unqualifizierte Lehrkräfte im System haben.
Unqualifizierte Lehrkräfte? Wo kommen die denn her?
Seiten- und Quereinsteiger. Das betrifft vor allem den nichtgymnasialen Bereich. Zudem sind Lehrkräfte teilweise ausgebrannt und erschöpft von Schülern, die weniger motiviert sind als früher.
Was ist mit den Schülern, die gut Deutsch sprechen? Lässt deren Leistung auch nach?
Ja, das sehen wir ganz deutlich am Gymnasium. Am Gymnasium sinken die Leistungen seit über zehn Jahren kontinuierlich. Und dort sind es nicht die Sprachprobleme, vielmehr können wir davon ausgehen, dass alle Schülerinnen und Schüler dort der deutschen Sprache mächtig sind. Vieles spricht dafür, dass das ein negativer Effekt der Unterrichtsqualität ist.
Entschuldigung, ich komme aus Bayern. Da sind die Anforderungen angeblich ja immer noch extrem hoch.
Schauen Sie sich die Leistungen in Bayern an. Auch die sinken. Auch in Bayern testen die Lehrkräfte die Leistungsgrenzen der Schülerinnen und Schüler nicht mehr aus, ihre Leistungserwartungen haben abgenommen. Das ist so, als wenn sie Bayern München trainieren und glauben, die Spieler können keinen Kurzpass spielen. Also üben sie mit ihnen den Kurzpass, den sie schon beherrschen. So ähnlich ist es auch in der Schule.
Die Lehrer erwarten zu wenig von den Schülern?
Viele haben Angst vor Konflikten mit den Eltern, wenn sie hohe Leistungen fordern und die Schüler eine schlechte Klassenarbeit schreiben. Als Folge sind ja auch die Sitzenbleiberquoten und die Leistungserwartungen gesunken. Das ist im Übrigen nicht nur ein schulisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Wenn wir immer weniger arbeiten wollen und am liebsten die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich hätten, dann schlägt sich diese Mentalität auch in der Schule nieder. Die Ansprüche an das, was zu leisten ist, sind in den letzten zehn bis 15 Jahren deutlich gesunken.
Die Schule produziert weniger leistungsfähige Erwachsene?
Ganz genau. Und das in erheblichem Maße.
Unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, unsere Innovationskraft leidet durch schlechten Unterricht, schlechte Lehrer, schlechte Schulen, schlechte Schüler?
Wir wissen, dass es so ist. Es gibt Studien, die zeigen, wie viel weniger unser Bruttoinlandsprodukt steigt, wenn die Schülerleistungen um 20 oder 30 Punkte in PISA sinken. Es ist ganz klar, dass diese 34 Prozent der Schüler, die den Mindeststandards für den Realschulabschluss nicht erreichen, kaum in eine qualifizierte Ausbildung kommen. Kfz-Mechatroniker, Industriemechaniker, Elektroniker - für solche Jobs sind sie vermutlich nicht mehr geeignet. Genauso für die kaufmännischen Berufe, Industriekauffrau, Industriekaufmann. Das produziert jedes Jahr über 200.000 Jugendliche, die nicht in Ausbildung kommen. Viele von ihnen werden später den Wohlfahrtsstaat in Anspruch nehmen müssen.
Ihr Kollege Klaus Zierer von der Uni Augsburg spricht von einem Bildungsnotstand, ähnlich einem Katastrophenfall.
Das ist es tatsächlich. Wir werden deutlich geringere Wachstumsraten im Bruttoinlandsprodukt durch niedrige Bildungsstände haben.
Welche Rolle spielen die sozialen Medien? Sie verringern nachweislich die Aufmerksamkeitsspanne.
Wenn man den ganzen Tag nur auf Instagram oder TikTok ist, dann kann man nicht viel in der Schule lernen, das stimmt. Wir haben in Deutschland etwa 300.000 Jugendliche, die eine echte Social-Media-Abhängigkeit haben und wir sehen, dass ihre schulischen Leistungen nachlassen. Aber das erklärt nicht den allgemeinen Leistungsabfall. Alles auf TikTok & Co zu schieben, ist unseriös.
Aber was muss sich ändern in der Schule, im Curriculum, im Lernen, bei den Lehrern?
Ich würde bei den ganz Schwachen anfangen, bei diesen 34 Prozent. Dazu hat die Wissenschaft Empfehlungen abgegeben: Sprachförderung, Sprachförderung, Sprachförderung! Das muss spätestens in der Grundschule beginnen, besser in der Kita. Und zwar nicht nur für die Kinder mit Migrationshintergrund, sondern auch für sozial benachteiligte Kinder ohne Zuwanderungsgeschichte.
Und bei den leistungsstarken Schülern?
Da müssen wir das Anspruchsniveau im Unterricht steigern. Und wir müssen Lernsituationen schaffen, die kognitiv aktivierend sind, die so spannend für die Schülerinnen und Schüler sind, dass sie wirklich Spaß daran haben, nachzudenken.
Wie begeistert man Schüler?
Was die Schülerinnen und Schüler immer fesselt, ist ein Anknüpfen an das, was wir die Grand Challenges nennen, die großen Herausforderungen unserer Zeit: Klimawandel, Pandemien, Energiewende. Das sind Themen, die Jugendliche bewegen. Solche und andere Themen sollten Lehrkräfte klug in ihren Unterricht einbauen.
Was ist mit digitalen Unterrichtsformen?
Die brauchen wir unbedingt. Denken Sie an komplexere mathematische Fähigkeiten und Fertigkeiten. Beispielsweise nicht lineare Zusammenhänge, wie wir sie in der Pandemie beobachtet haben. Man manipuliert Eingangsvariablen und schaut in Abhängigkeit davon, wie sich eine Ausgangsvariable, beispielsweise das Infektionsrisiko, verändert. Solche Simulationen können Sie nur digital machen. Auch sonst hat digitaler Unterricht Vorteile: Die Lehrkraft kann jederzeit sehen, was die Schülerinnen und Schüler auf ihren Rechnern machen und kann sofort intervenieren, wenn irgendwas falsch läuft.
Der ehemalige Hamburger Schulsenator Ties Rabe sagt, dass viele Lehrer das pädagogische Konzept verfolgen, die Schüler einfach machen zulassen. Er findet das nicht gut.
Da hat er Recht. Nichts tun ist kein pädagogisches Konzept. Wir erwarten von Lehrern eine konstruktive Unterstützung. Wenn Schüler nicht weiterkommen, sollen sie helfen und nicht passiv bleiben.
Wagen Sie doch mal eine Prognose. Schaffen wir es, die Kurve zu kriegen? Oder sehen Sie schwarz für die nächsten zehn Jahre?
In der PISA-Studie 2000 hatten wir ja auch so ein schlechtes Ergebnis wie jetzt. Damals hat es über zehn Jahre gedauert, bis wir wirklich signifikante Verbesserungen sahen. Also rechnen Sie jetzt mal zehn Jahre obendrauf. Demnach ist 2035 mit einer Besserung zu rechnen.
Das heißt, wir können erst in zehn Jahren damit rechnen, dass aus der Schule Schüler kommen, die uns wirtschaftlich und gesellschaftlich wieder voranbringen können?
Das ist vermutlich so, ja. Wir werden am Arbeitsmarkt eine Durststrecke haben und wir müssen hoffen, dass die künstliche Intelligenz einen Teil des fehlenden Humankapitals auffängt.

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