Ein wenig Zinsrechnung mit Zinseszins, der Aufbau von Kohlenwasserstoffen und die Eigenschaften von Metallen, die drei Hauptsätze der Thermodynamik, Photosynthese und Phosphatstoffwechsel. Nichts davon gehört zu den „Raketenwissenschaften“, wie man heute alles nennt, was man nicht wissen muss, sondern zur Allgemeinbildung – und zum mittleren Schulabschluss in Deutschland. In Mathematik, Chemie, Physik und Biologie.
Alle sechs Jahre überprüft das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, wie es bei den 15-Jährigen um solche Kompetenzen steht. Die Zahlen überreicht das IQB (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen) der Kultusministerkonferenz. Die KMK verbreitet die Ergebnisse. Basierend darauf drückt das Bildungsministerium seine Besorgnis aus: 2018 fiel der MSA in den naturwissenschaftlichen Fächern bereits schlechter als 2012 aus und 2024 noch um einiges schlechter als 2018.
So stellt sich der aktuelle Trend dar: In Mathematik verfehlt mehr als ein Drittel die geltenden Mindeststandards, weiß also im Grunde nichts. Bei Schülern, die mehr als den MSA anstreben und mehr wissen sollten, wenn sie am Gymnasium oder einer anderen höheren Schule sind, sehen die Zahlen so aus: 24 Prozent scheitern an Mathematik, 25 an Chemie, 16 an Physik und zehn an Biologie.
Das Bundesbildungsministerium spricht von einem Warnsignal und sieht die Zukunft in Gefahr.
Weil das Problem dem deutschen Bildungswesen schon länger bekannt ist, wurde das Wort MINT erfunden für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Es gibt reichlich Fördergelder und Stipendien für Fachbereiche und Studenten. Vor allem um Frauen wird geworben. Es sind merkwürdige Zeiten: Alle Welt redet von Smartphones und Elektroautos, Windmotoren und Atomkraft, Batterien und Seltenen Erden, Künstlicher Intelligenz und Quantencomputern, Zusatzstoffen in Nahrungs- und Lebensmitteln, Allergien und Proteinen. Wirklich und genauer wissen wollen nur die wenigsten etwas davon.
Wer sich an Schulen umhört, unter Fachlehrern, erfährt, dass ahnungslose Schüler nur die jüngsten Boten einer manifesten häuslichen, gesellschaftlichen Ignoranz und Arroganz sind. Schlechte Noten führen nicht zu Einsicht, Fleiß und besseren Noten, sondern zu Beschwerden: Eltern klagen, dass selbst sie mit dem Stoff überfordert seien und fragen, wozu ihr Kind das alles lernen solle? Wer brauche als Anwalt noch Matrizen und Ionen? MINT? Das sind die anderen, die Nerds.
Das Bild des lebensuntüchtigen Nerds, der Moleküle wie Oxytocin aufmalen kann, aber nicht spürt, welche Gefühle sie in ihm auslösen, haben sich die Mathematiker und Biologen, Chemiker und Physiker selbst angeeignet, um gegen die Norm der Wissenschaftsvergessenen zu rebellieren. Mit Geist und Humor.
So hatten sich die Aufklärer das vor 400 Jahren nicht gedacht, als sie den Geist von der Materie trennten und die menschliche Kultur über seine Natur erhoben, über die Natur an sich. Auch Goethe ließ den Menschen einerseits nach dem Schönen, Wahren und Guten streben, andererseits nach der Erkenntnis, was die Welt im Innersten zusammenhält. Im 20. Jahrhundert, im Atomzeitalter, kam es zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften zu erbitterten Debatten und Wissen und Ethik. Philosophen triumphierten über Physiker und Soziologen über Biologen. Intellektuelle mit Chemie-Nobelpreisen verschwanden in den Instituten. Intellektuelle aus den Geisteswissenschaften fingen an, die Welt im Großen und im Ganzen zu erklären, ohne sich mit dem Kleinklein im Inneren aufzuhalten. Naturwissenschaftler gingen ihrer Arbeit nach. Es gab genug zu tun, auch ohne auf sich aufmerksam zu machen, ohne übertriebene öffentliche Resonanz und Wertschätzung. Forscher und Fachleute wurden zu Nerds.
Die Kettenreaktion geriet außer Kontrolle. Wer sich mit der Katalyse zur Synthese neuartiger Kunststoffe beschäftigt, wird belächelt; wer sich mit Kultur befasst, mit Schöngeistigem, wird bewundert. Alle wollen was mit Medien und Menschen machen. Wissenschaft, heißt es, nehme dem Leben seinen Zauber. Geradezu als schick gilt heute eine angeborene oder erworbene Dyskalkulie, eine Zahlen- und Rechenschwäche.
Die Coronapandemie hat solche Trends nicht nur durch die getroffenen Maßnahmen verstärkt. Die Leistungen, vor allem in den MINT-Fächern, brachen nach Schulschließungen ein und blieben auch danach im Keller, als hätten die Schüler das Lernen verlernt – und damit auch das klare, logische, kausale Denken. Mathe macht mehr Mühe in der Schule als Musik (auch wenn die Aufklärer das noch ganz anders sahen, wenn sie mathematisch musizierten und sich an Zahlen berauschten wie an einer Messe).
Das Coronavirus hat auch die Naturwissenschaft nachhaltig geschwächt. Nicht in dem, was sie ist, sondern in ihrem Wirken, ihrem Ansehen. „Follow the Science“ hieß als Leitgedanke eben nicht, der Wissenschaft, die es ja nur als Wissenschaften gibt, im Plural, blind zu folgen, um sozialpolitische Entscheidungen zu treffen. Es ging lediglich um Wissenschaften als Primärquellen von fließenden und flüchtigen Erkenntnissen und Irrtümern. Was aber auch einige Wissenschaftler in ihren menschlichen Eitelkeiten nicht verstehen wollten. Seither sind die Leute noch enttäuschter, wenn Wahrheiten nur solange gelten, bis sie widerlegt sind – und glauben den Wissenschaften immer weniger.
Da kommt jetzt, in den Zwanzigern des 21. Jahrhunderts, viel zusammen. Eine grüne Energiewende, die von Politikern gefordert wird, die weder wissen, wie ein Lithium-Ionen-Akku funktioniert noch eine Brennstoffzelle oder ein Solarmodul, geschweige denn ein Thorium-Reaktor. Eine neurechte Wissenschaftspolitik, die nichts von Wissensfreiheit und Grundlagenforschung hält (Wer braucht das? Was kostet und bringt das? Wozu soll das gut sein?), Gelder dafür einfriert und die Menschheit in der Gegenwart erstarren lässt. Eine grassierende Veränderungsmüdigkeit und ein Verdruss am Fortschritt. Schwurbler, die sich allen Evidenzen widersetzen, aus Prinzip: „Musste mal googeln!“ Denkfaulheit und Bildungsträgheit. Und soziale Medien, in denen es darum geht, zu meinen statt zu wissen.
Wer jeden menschlichen Drang, die Welt und die Natur des Lebens, das gesamte Dasein besser zu verstehen und jede menschliche Neugier durch die Frage abtötet, worin der Sinn liegt, außer in sich selbst, will keine Wahrheit und kein Weltbild. Und vor allem keine Zukunft. Man muss über alles nachdenken und reden können. Solange man weiß, wie Treibhausgase prinzipiell das Klima ändern, dass Autismus kaum durch Paracetamol hervorgerufen werden kann, warum Eis schwimmt, wie Wölfe ihre Wälder ökologisch prägen. Und was RCT, randomisierte kontrollierte Studien, sind und was einfach nur Studien, die einen Trend abbilden, wie die Werte für den MSA vom IQB in Deutschland. Deutschland, das noch immer die Nation der Ingenieure, Techniker und Wissenschaftler sein möchte. Aber wer weiß, wie lange noch.
.png)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen