Montag, 7. Mai 2012

Pfeif auf das Schulzeugnis!

DEUTSCHLAND.  Bruno Monteiro hatte eigentlich keine Chance. Sein Hauptschulzeugnis war schlecht, und im Lebenslauf fanden sich große Lücken. Auf mehr als 100 Bewerbungen erhielt er nur Absagen. Der Portugiese lebte von Gelegenheitsjobs und Grundsicherung. Wie ihm ergeht es vielen in seinem Bekanntenkreis: „Die sind alle nur in sinnlosen Maßnahmen zwischengeparkt“, klagt Monteiro. Eine Arbeitsvermittlerin in Würzburg bot dem 21-Jährigen schließlich einen Ausweg: Mit einer „Einstiegsqualifizierung“ entkam Monteiro dem Teufelskreis von Hartz IV und Hoffnungslosigkeit.
Heute absolviert er in einem Firmen-Shop der Telekom sein zweites Ausbildungsjahr – mit der Chance auf Übernahme. Er sagt: „Bei der Telekom wurde ich sofort akzeptiert.“ Sein Glück: Der Branchenriese war mit seinem Programm „Meine Chance – ich starte durch“ ein Vorreiter. Mit dem von der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit (BA) bezahlten Einstiegspraktikum starten bei dem Konzern seit 2009 jedes Jahr 100 Anfänger, denen die nötigen Qualifikationen eigentlich fehlen.
Das Beispiel des jungen Mannes zeigt, dass so mancher hoffnungslose Fall dank der Kooperation von Unternehmen und BA die Gelegenheit bekommt, sich für eine Berufsausbildung fit zu machen – und sie nutzt. Bei vielen klappt das allerdings nicht, obwohl die gute Konjunktur und der Geburtenrückgang ihnen ein reiches Angebot an Lehrstellen bescheren.
• Defizite bei der Berufsbildung
Rund 270 000 Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz finden, landen jährlich in den meist einjährigen Bildungsmaßnahmen. Diese Kurse sollen sie für eine Berufsausbildung fit machen. 4 Mrd. Euro im Jahr kostet das staatlich finanzierte Übergangssystem. Experten fordern Reformen: mehr Praxis für schulmüde Jugendliche und von Sozialpädagogen begleitete Ausbildung in den Betrieben.
Reformbedarf
Bei bis zu 30 Prozent der Absolventen münden diese Übergangsmaßnahmen auch nach drei Jahren nicht in eine Berufsausbildung. Viele bleiben auf Dauer arbeitslos. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind stark überrepräsentiert.
Im Jahr 2010 nahmen 270 000 Schulabgänger an den einjährigen Bildungsprogrammen des „Übergangssystems“ zwischen Schule und Beruf teil. Es sind meist die schwächeren, schwierigen Schüler – viele mit Migrationshintergrund -, die in dem Auffangbecken landen. Manche drehen sogar mehrere Runden in den Berufsgrundbildungsjahr, Vorbereitungs jahr oder Einstiegsjahr genannten Programmen. Rund vier Milliarden Euro im Jahr kostet das Verweilen in den öffentlich geförderten und für private Träger oft höchst lukrativen „Maßnahmen“ – mit geringen Erfolgsaussichten. Rund 20 Prozent schaffen den Übertritt in eine Berufsausbildung nie.
Die Bundesregierung hat die Problematik erkannt. Am „Tag des Ausbildungsplatzes“ wirbt FDP-Staatssekretär Bernhard Heitzer aus dem Bundeswirtschaftsministerium deshalb dafür, mehr Jugendliche in die reguläre duale Ausbildung zu bringen. Auch die Bundeskanzlerin informiert sich an diesem Montag im Berliner Siemens-Werk über die Förderung von Schwachen.
Ein Grund für die bescheidene Ausbildungsbilanz liegt darin, dass in Deutschland im Schuljahr 2010/2011 gut sechs Prozent junge Menschen die Schule ohne Abschluss verließen, darunter viele Hauptschüler, aber auch zahlreiche Förderschüler. Auffällig viele Abbrecher leistet sich der Osten. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt ging jeder achte bzw. zehnte ohne Abschluss von der Schule ab.
Ökonomen warnen angesichts einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung vor einer wachsenden „neuen Unterschicht“, die sich lebenslang auf Transferleistungen verlasse. Sterne-Koch Christian Rach stellt in seiner Berliner Restaurantschule „Roter Jäger“ auch schwer vermittelbare Leute ein. Er beklagt, die „Rundumversorgung durch Hartz IV“ korrumpiere die Jugend.
Auch Heinrich Alt, im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit für die Grundsicherung zuständig, sorgt sich, weil rund 1,5 Millionen Menschen unter 30 Jahren keine abgeschlossene Berufsausbildung haben und unregelmäßig beschäftigt sind. Er kündigt an: „Die müssen wir uns noch mal ansehen. Viele könnten es durch Nachschulungen und mit Hilfe noch zu Facharbeitern bringen.“ Alt verteidigt das Übergangssystem. Es biete den Bildungsfernen zumindest eine „sinnvolle Beschäftigung“.
Not macht erfinderisch. Weil der Ausbildungsmarkt sich zu Gunsten der Bewerber gedreht hat, offerieren die Firmen jetzt sogar Jugendlichen ohne präsentablen Schulabschluss oder profunde Deutschkenntnisse ihre Lehrstellen.
Das Motto lautet: „neue Talente“ fördern. Auch Otto Kentzler befolgt diese Devise. Der Handwerks-Präsident kümmert sich in seinem Betrieb für Dachbau in Dortmund besonders um Berufsanfänger mit Migrationshintergrund. Er ist stolz darauf, dass er die Familie eines türkischstämmigen Auszubildenden überzeugen konnte, ihren Sohn die Gesellenprüfung machen zu lassen, statt den Kiosk des Vaters zu übernehmen. „Das Handwerk nimmt bewusst auch Jugendliche auf, die auf Grund ihrer schulischen oder sozialen Voraussetzungen keine Chance auf eine Lehrstelle hätten. Die können ihre Vier in Mathe durch Einsatz ausgleichen.“ Kentzler betont, 58 Prozent der Ausbildungsanfänger hätten höchstens einen Hauptschulabschluss.
„Ausbildung ist Chefsache“, sagt Fleischermeister Ralf Mandel, der in Osnabrück einen Betrieb mit 80 Mitarbeitern leitet. Seit 25 Jahren vermittelt er, wie Wurst und Rouladen gefertigt werden. Sein Fazit: „Einsatzbereitschaft und Zahl der Bewerber nahmen deutlich ab. Wir haben unsere Anforderungen gesenkt. Zeugnisse sind zweitrangig.“
Problematisch findet Mandel, dass es vielen jungen Menschen an Selbstdisziplin fehle. Die angehenden Verkäuferinnen etwa sollen jeden Morgen freundlich hinter der Ladentheke stehen. Streng genommen hätte er der jungen Frau kündigen müssen, die das dritte Mal am Hauptverkaufstag fehlte. Am Abend zuvor hatte sie „bis zum Pupillenstillstand“ gebechert. Er hielt ihr nur eine Standpauke. Der passionierte Fleischer gewinnt seinen schwierigen Schützlingen auch etwas Positives ab: „Es ist toll, wenn die sich im Job bewähren. Die Einser-Kandidaten ausbilden, das kann doch jeder.“
...
Politik: Pfeif auf das Schulzeugnis! - weiter lesen auf FOCUS Online: http://www.focus.de/finanzen/karriere/perspektiven/politik-pfeif-auf-das-schulzeugnis_aid_748025.html

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen