In einer Berliner Kita waren Spielzeuge monatelang tabu - Eine Mutter zieht Bilanz
Vor ein paar Tagen kam eine Mail aus der Kita: Das
Spielzeug kehrt nun doch nicht zurück. Ich war genervt. So war das nicht
vereinbart gewesen.
Im Frühjahr hatte die Kita eine "spielzeugfreie
Zeit" beschlossen, ein Projekt, das seit Jahren durch deutsche
Kindergärten geistert und, wie es scheint, auch der pädagogische Trend
des Jahres 2012 in Berlin-Prenzlauer Berg ist. Klingt gut, dachte ich
anfangs. Wir Generation-Golf-Eltern finden ja alles erstmal großartig,
was an unsere von uns idealisierte Kindheit erinnert, an diese
reduzierte, analoge Welt. Am Elternabend fehlten wir, waren aber sicher,
mindestens eine eifrige Mutter oder ein Vater würde schon wichtige
Fragen klären und etwaige Bedenken.
Anfang Mai ging es los. Den größeren Kindern wurde
erklärt, was sie erwartet, es war aufregend. Einen wöchentlichen Waldtag
sollte es geben. Die Bauklötze, Puppen, Autos und Malstifte würden in
den Keller wandern. Für knapp drei Monate, bis zu den Ferien. Einzig die
Möbel durften bleiben und Dinge wie Decken, Kissen, Klammern, Seile,
Kartons und Papprollen. Dinge ohne direkte Funktion, nichts
Vorgefertigtes, so lautete die Regel.
Frustration aushalten
"Durch die entstandene Leere sind die Kinder auf sich
selbst, ihre eigenen Ideen, Wünsche, Stärken und Schwächen gestellt und
werden gemeinsam die neue Situation gestalten", stand auf einem
Infoblatt der Kita. "So werden langfristig und kontinuierlich
Lebenskompetenzen aufgebaut." Zieht man 50 Prozent Pädagogensprache ab,
dachten wir, bleiben immer noch 50 Prozent, die vernünftig klingen.
Später machte ich mich im Internet schlau. Das Projekt gelte als einer
der besten "suchtpräventiven Ansätze" im Kindergartenbereich, heißt es
da. Ursprünglich kommt die Idee aus der Erwachsenenwelt. In der
Suchtprävention hatte man gute Erfahrung mit dem Wegnehmen von scheinbar
unabkömmlichen Dingen gemacht. Und irgendwann in den 90er Jahren dachte
eine Mitarbeiterin im Gesundheitsamt von Weilheim-Schongau in Bayern,
warum nicht mit Kindern ausprobieren, wie das geht: Frustration und
Langeweile aushalten. 1999 wurde die spielzeugfreie Zeit in die Liste
"effektive Modellprojekte" in Europa aufgenommen. Ob es unseren
Vierjährigen davor bewahren wird, später zum Kettenraucher oder zum
Kiffer zu werden?
Ein bisschen lächeln mussten wir schon. Das Ganze
roch ideologisch, nach Managern, die ins Kloster gehen, um sich selbst
zu finden. Aber angeblich haben ja auch Kinder nach einem Kita-Tag den
Stresspegel eines Managers. Und vielleicht, dachten wir, ist das Projekt
das Richtige für Eltern, die täglich viel unter einen Hut stopfen. Die
am Abend oft ein schlechtes Gewissen haben und am Laptop das
Wochenendhäuschen in der Uckermark suchen. Dort draußen könnten die
Kinder einfach nur rumstromern, wie wir früher.
Als der erste spielzeugfreie Tag zu Ende war, war
nicht ganz klar, ob die Kinder oder die Erwachsenen einen
angestrengteren Eindruck machten. Die Kita wirkte verlassen. Hallte es
in den Räumen? Der jüngere Sohn ist gerade zwei geworden. Er spielt von
früh bis spät mit Autos. "Tatutatas", sagte er bis vor kurzem. Und die
waren nun weg. Das wurde uns erst jetzt so recht klar. Dennoch bemühten
wir uns mit den anderen Eltern um gute Miene. Es musste eben gelingen,
dem Zweijährigen zu vermitteln, dass diese Leere keine Bestrafung ist.
Und dem Großen musste erklärt werden, dass das jetzt gut ist, wenn er
nichts mit sich anzufangen weiß. "Kinder müssen sich auch mal langweilen
können", sagte ich tapfer zur Erzieherin.
Ein paar Wochen später. Ihr Sohn Arthur klage über
Langeweile, sagt mir Eva, sie ist Controllerin. Eine andere Mutter
erzählt, ihre Tochter Ella mache keinen Mittagschlaf mehr. Die Ruhephase
ist aber Pflicht. Ob ein Hörspiel erlaubt sei, fragt sie jetzt doch
nach, obwohl Elternvorschläge im Projekt nicht erlaubt sind. Es soll ja
alles von den Kindern kommen. Leider nicht, nur Musik kann zur
Entspannung gehört werden. Warum Musik erlaubt ist und Geschichten
nicht, leuchtet uns nicht richtig ein. Vielleicht schummeln die Erzieher
selbst ein bisschen.
Keine Lust mehr auf den Großbetrieb
Unser Jakob sitzt morgens bis zur letzten Minute bei
seinen Autos, sonst hat er sich ganz gut eingerichtet. Der Große ist ja
nie so gesprächig. Und mit Fragen löchern wollen wir auch nicht. Leider
fallen zwei Erzieherinnen kurzfristig aus und damit auch die Ausflüge in
den Wald. Von dort sollten die Fundstücke aus der Natur kommen. Die
geplante Biberburg wird nun doch nicht gebaut. Schade, der ältere Sohn
erzählt nicht viel, aber von der Biberburg hatte er berichtet. Die
anderen Erzieher klagen über Überarbeitung, die Stimmung ist öfter
gereizt. Auch bei den Eltern. Es ist stressig, zwischen Tür und Angel,
wenn ein Kind oder zwei sofort am Rockzipfel hängen, nach dem
Projektstand zu fragen.
Es gibt auch schöne Szenen, wir versuchen, sie
wahrzunehmen, aber sie gehen ein wenig unter. Der Lieblingsplatz der
Jungs ist gerade der Tisch hinter einer Tür, wacklige Kinderstühle mit
Piraten drauf, an einem Stock baumelt ein Band, die Angel, unten tost
das Meer, hörst du es nicht?
Auf dem Piratenschiff hocken die Jungen. Ohne die
Mädchen. Im Gender-Bereich funktioniert das Projekt nicht so gut,
erfahren wir. Aber sonst? Unglücklich wirken die Kinder nicht gerade.
Neue Freundschaften sind entstanden. Die Mama von Nadine erzählt, ihr
Kind spiele jetzt zu Hause viel intensiver mit den Sachen. Es kommen
Selbstzweifel. Schauen wir nicht richtig hin? Sind es nicht
Prenzlauer-Berg-Luxusprobleme, sich zu sorgen, ob die Kinder genügend
Anregung haben? Wie sie das hinkriegen, Streit und Ärger unter sich zu
klären? Zum Projekt gehört nämlich, dass die Erzieher nur beobachten und
sich möglichst nicht einmischen sollen. Doch mit welchen Worten soll
sich der Jüngste durchschlagen? Und der Vierjährige lässt sich auch eher
unterbuttern. Im August wird er fünf, die Kinderärztin hatte angemahnt,
er müsse mehr malen, wegen der Schulfähigkeit. Braucht so ein Kind eine
spielzeugfreie Zeit oder doch besser Stift und Papier?
Andererseits: Wir haben doch Glück, wir haben einen
Kitaplatz, mehr noch, die Kinder sind bei engagierten Erzieherinnen
untergebracht. Zwei sind aus "Westdeutschland" nach Berlin gekommen,
Marie wurde noch als "Krippenerzieherin" in Eberswalde ausgebildet. Das
war kurz vor der Wende. Die drei haben sich dann in einer Kita in
Berlin-Mitte kennengelernt, sie hatten aber schon bald keine Lust mehr
auf den Großbetrieb. Sie fanden die Atmosphäre unkollegial, die Arbeit
uninspiriert. Einmal im Jahr besuchen sie Fortbildungen und kehren mit
neuen Konzepten zurück. Zum Beispiel mit dem der spielzeugfreien Zeit.
Nach ein paar Wochen droht das Experiment aus dem
Ruder zu laufen. In der Kita fuchteln die Jungs mit Stöcken herum. Eine
Mutter fordert, dass das aufhört, als Kind hätte sie beinahe das
Augenlicht verloren. Der Elternsprecher schaltet sich ein. Er richtet
ein Doodle ein, es findet eine Abstimmung übers Internet statt, Einfluss
hat sie nicht. Bei uns zu Hause wird die Affäre kontrovers diskutiert.
Mein Mann ist für die Stöcke. Ein Vater unkt, die Stöcke seien in seiner
Fantasie monströs groß geworden.
Ich enthalte mich bei der Abstimmung, aber dann,
eines Nachmittags, kommt mein Sohn nach Hause, quer über der linken
Augenbraue verläuft eine zwei Zentimeter große Schramme. "Was hast du
denn da?", frage ich ihn. Die Schramme kommt von einem Stock. Die Kita
will die Stöcke behalten, sie gehören zum Projekt: "Jede pädagogische
Arbeit und Erziehung in Richtung Selbstständigkeit und
Selbstbestimmtheit birgt Risiken!", steht im Projekttagebuch. Die
Mutter, die sich beschwert hatte, fühlt sich nicht ernst genommen, die
meisten anderen stellen sich tot. Eltern, die nachmittags von ihren Jobs
anrauschen. Die einfach wollen, dass der Alltag funktioniert.
Solidarität der Eltern angemahnt
Kurz vor den Ferien kommt ein Bericht. Die Erzieher
sind zufrieden, begeistert von den Kindern. Weniger zufrieden ist man
mit den Eltern, wir seien nicht solidarisch mit dem Projekt. Die Kinder
haben kuschelige Höhlen gebaut und geheimnisvolle Labyrinthe, Züge
beladen und mit Kohle beheizt. Unser großer Sohn hat mit den anderen
Jungs Kartons zersägt, Dachziegel für ein Haus, einer der Stöcke war die
Säge. Erste Prototypen der Biberburg sind entstanden. Langeweile war
die Ausnahme. Wir staunen über die Fantasie unserer Kinder. Dass wir
staunen, verrät viel über unser Leben.
Das Spielzeug bleibt also vorerst im Keller der Kita.
Die Erzieherinnen wollen mit den Kindern gemeinsam entscheiden, welche
Sachen wann zurückkehren sollen, was von den Materialien bleiben wird.
Die Stöcke etwa. Die Erzieherin Marie sagt, sie hätte viele positive
Reaktionen auf den Brief erhalten, in dem doch stand, dass die Eltern
nicht richtig bei der Sache waren. Die meisten wollen das Projekt
nächsten Sommer wiederholen. Seit ein paar Tagen fragt Jakob: "Heute
keine Kita?" Nächste Woche geht es wieder los.
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