Montag, 13. August 2012

Geplante Langeweile in der Kita

In einer Berliner Kita waren Spielzeuge monatelang tabu - Eine Mutter zieht Bilanz
Vor ein paar Tagen kam eine Mail aus der Kita: Das Spielzeug kehrt nun doch nicht zurück. Ich war genervt. So war das nicht vereinbart gewesen.
Im Frühjahr hatte die Kita eine "spielzeugfreie Zeit" beschlossen, ein Projekt, das seit Jahren durch deutsche Kindergärten geistert und, wie es scheint, auch der pädagogische Trend des Jahres 2012 in Berlin-Prenzlauer Berg ist. Klingt gut, dachte ich anfangs. Wir Generation-Golf-Eltern finden ja alles erstmal großartig, was an unsere von uns idealisierte Kindheit erinnert, an diese reduzierte, analoge Welt. Am Elternabend fehlten wir, waren aber sicher, mindestens eine eifrige Mutter oder ein Vater würde schon wichtige Fragen klären und etwaige Bedenken.
Anfang Mai ging es los. Den größeren Kindern wurde erklärt, was sie erwartet, es war aufregend. Einen wöchentlichen Waldtag sollte es geben. Die Bauklötze, Puppen, Autos und Malstifte würden in den Keller wandern. Für knapp drei Monate, bis zu den Ferien. Einzig die Möbel durften bleiben und Dinge wie Decken, Kissen, Klammern, Seile, Kartons und Papprollen. Dinge ohne direkte Funktion, nichts Vorgefertigtes, so lautete die Regel.
Frustration aushalten
"Durch die entstandene Leere sind die Kinder auf sich selbst, ihre eigenen Ideen, Wünsche, Stärken und Schwächen gestellt und werden gemeinsam die neue Situation gestalten", stand auf einem Infoblatt der Kita. "So werden langfristig und kontinuierlich Lebenskompetenzen aufgebaut." Zieht man 50 Prozent Pädagogensprache ab, dachten wir, bleiben immer noch 50 Prozent, die vernünftig klingen. Später machte ich mich im Internet schlau. Das Projekt gelte als einer der besten "suchtpräventiven Ansätze" im Kindergartenbereich, heißt es da. Ursprünglich kommt die Idee aus der Erwachsenenwelt. In der Suchtprävention hatte man gute Erfahrung mit dem Wegnehmen von scheinbar unabkömmlichen Dingen gemacht. Und irgendwann in den 90er Jahren dachte eine Mitarbeiterin im Gesundheitsamt von Weilheim-Schongau in Bayern, warum nicht mit Kindern ausprobieren, wie das geht: Frustration und Langeweile aushalten. 1999 wurde die spielzeugfreie Zeit in die Liste "effektive Modellprojekte" in Europa aufgenommen. Ob es unseren Vierjährigen davor bewahren wird, später zum Kettenraucher oder zum Kiffer zu werden?
Ein bisschen lächeln mussten wir schon. Das Ganze roch ideologisch, nach Managern, die ins Kloster gehen, um sich selbst zu finden. Aber angeblich haben ja auch Kinder nach einem Kita-Tag den Stresspegel eines Managers. Und vielleicht, dachten wir, ist das Projekt das Richtige für Eltern, die täglich viel unter einen Hut stopfen. Die am Abend oft ein schlechtes Gewissen haben und am Laptop das Wochenendhäuschen in der Uckermark suchen. Dort draußen könnten die Kinder einfach nur rumstromern, wie wir früher.
Als der erste spielzeugfreie Tag zu Ende war, war nicht ganz klar, ob die Kinder oder die Erwachsenen einen angestrengteren Eindruck machten. Die Kita wirkte verlassen. Hallte es in den Räumen? Der jüngere Sohn ist gerade zwei geworden. Er spielt von früh bis spät mit Autos. "Tatutatas", sagte er bis vor kurzem. Und die waren nun weg. Das wurde uns erst jetzt so recht klar. Dennoch bemühten wir uns mit den anderen Eltern um gute Miene. Es musste eben gelingen, dem Zweijährigen zu vermitteln, dass diese Leere keine Bestrafung ist. Und dem Großen musste erklärt werden, dass das jetzt gut ist, wenn er nichts mit sich anzufangen weiß. "Kinder müssen sich auch mal langweilen können", sagte ich tapfer zur Erzieherin.
Ein paar Wochen später. Ihr Sohn Arthur klage über Langeweile, sagt mir Eva, sie ist Controllerin. Eine andere Mutter erzählt, ihre Tochter Ella mache keinen Mittagschlaf mehr. Die Ruhephase ist aber Pflicht. Ob ein Hörspiel erlaubt sei, fragt sie jetzt doch nach, obwohl Elternvorschläge im Projekt nicht erlaubt sind. Es soll ja alles von den Kindern kommen. Leider nicht, nur Musik kann zur Entspannung gehört werden. Warum Musik erlaubt ist und Geschichten nicht, leuchtet uns nicht richtig ein. Vielleicht schummeln die Erzieher selbst ein bisschen.
Keine Lust mehr auf den Großbetrieb
Unser Jakob sitzt morgens bis zur letzten Minute bei seinen Autos, sonst hat er sich ganz gut eingerichtet. Der Große ist ja nie so gesprächig. Und mit Fragen löchern wollen wir auch nicht. Leider fallen zwei Erzieherinnen kurzfristig aus und damit auch die Ausflüge in den Wald. Von dort sollten die Fundstücke aus der Natur kommen. Die geplante Biberburg wird nun doch nicht gebaut. Schade, der ältere Sohn erzählt nicht viel, aber von der Biberburg hatte er berichtet. Die anderen Erzieher klagen über Überarbeitung, die Stimmung ist öfter gereizt. Auch bei den Eltern. Es ist stressig, zwischen Tür und Angel, wenn ein Kind oder zwei sofort am Rockzipfel hängen, nach dem Projektstand zu fragen.
Es gibt auch schöne Szenen, wir versuchen, sie wahrzunehmen, aber sie gehen ein wenig unter. Der Lieblingsplatz der Jungs ist gerade der Tisch hinter einer Tür, wacklige Kinderstühle mit Piraten drauf, an einem Stock baumelt ein Band, die Angel, unten tost das Meer, hörst du es nicht?
Auf dem Piratenschiff hocken die Jungen. Ohne die Mädchen. Im Gender-Bereich funktioniert das Projekt nicht so gut, erfahren wir. Aber sonst? Unglücklich wirken die Kinder nicht gerade. Neue Freundschaften sind entstanden. Die Mama von Nadine erzählt, ihr Kind spiele jetzt zu Hause viel intensiver mit den Sachen. Es kommen Selbstzweifel. Schauen wir nicht richtig hin? Sind es nicht Prenzlauer-Berg-Luxusprobleme, sich zu sorgen, ob die Kinder genügend Anregung haben? Wie sie das hinkriegen, Streit und Ärger unter sich zu klären? Zum Projekt gehört nämlich, dass die Erzieher nur beobachten und sich möglichst nicht einmischen sollen. Doch mit welchen Worten soll sich der Jüngste durchschlagen? Und der Vierjährige lässt sich auch eher unterbuttern. Im August wird er fünf, die Kinderärztin hatte angemahnt, er müsse mehr malen, wegen der Schulfähigkeit. Braucht so ein Kind eine spielzeugfreie Zeit oder doch besser Stift und Papier?
Andererseits: Wir haben doch Glück, wir haben einen Kitaplatz, mehr noch, die Kinder sind bei engagierten Erzieherinnen untergebracht. Zwei sind aus "Westdeutschland" nach Berlin gekommen, Marie wurde noch als "Krippenerzieherin" in Eberswalde ausgebildet. Das war kurz vor der Wende. Die drei haben sich dann in einer Kita in Berlin-Mitte kennengelernt, sie hatten aber schon bald keine Lust mehr auf den Großbetrieb. Sie fanden die Atmosphäre unkollegial, die Arbeit uninspiriert. Einmal im Jahr besuchen sie Fortbildungen und kehren mit neuen Konzepten zurück. Zum Beispiel mit dem der spielzeugfreien Zeit.
Nach ein paar Wochen droht das Experiment aus dem Ruder zu laufen. In der Kita fuchteln die Jungs mit Stöcken herum. Eine Mutter fordert, dass das aufhört, als Kind hätte sie beinahe das Augenlicht verloren. Der Elternsprecher schaltet sich ein. Er richtet ein Doodle ein, es findet eine Abstimmung übers Internet statt, Einfluss hat sie nicht. Bei uns zu Hause wird die Affäre kontrovers diskutiert. Mein Mann ist für die Stöcke. Ein Vater unkt, die Stöcke seien in seiner Fantasie monströs groß geworden.
Ich enthalte mich bei der Abstimmung, aber dann, eines Nachmittags, kommt mein Sohn nach Hause, quer über der linken Augenbraue verläuft eine zwei Zentimeter große Schramme. "Was hast du denn da?", frage ich ihn. Die Schramme kommt von einem Stock. Die Kita will die Stöcke behalten, sie gehören zum Projekt: "Jede pädagogische Arbeit und Erziehung in Richtung Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit birgt Risiken!", steht im Projekttagebuch. Die Mutter, die sich beschwert hatte, fühlt sich nicht ernst genommen, die meisten anderen stellen sich tot. Eltern, die nachmittags von ihren Jobs anrauschen. Die einfach wollen, dass der Alltag funktioniert.
Solidarität der Eltern angemahnt
Kurz vor den Ferien kommt ein Bericht. Die Erzieher sind zufrieden, begeistert von den Kindern. Weniger zufrieden ist man mit den Eltern, wir seien nicht solidarisch mit dem Projekt. Die Kinder haben kuschelige Höhlen gebaut und geheimnisvolle Labyrinthe, Züge beladen und mit Kohle beheizt. Unser großer Sohn hat mit den anderen Jungs Kartons zersägt, Dachziegel für ein Haus, einer der Stöcke war die Säge. Erste Prototypen der Biberburg sind entstanden. Langeweile war die Ausnahme. Wir staunen über die Fantasie unserer Kinder. Dass wir staunen, verrät viel über unser Leben.
Das Spielzeug bleibt also vorerst im Keller der Kita. Die Erzieherinnen wollen mit den Kindern gemeinsam entscheiden, welche Sachen wann zurückkehren sollen, was von den Materialien bleiben wird. Die Stöcke etwa. Die Erzieherin Marie sagt, sie hätte viele positive Reaktionen auf den Brief erhalten, in dem doch stand, dass die Eltern nicht richtig bei der Sache waren. Die meisten wollen das Projekt nächsten Sommer wiederholen. Seit ein paar Tagen fragt Jakob: "Heute keine Kita?" Nächste Woche geht es wieder los.

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