Mittwoch, 13. Februar 2019

Zu viele Schüler mit guten Noten - Ist das Abi in Deutschland noch ernst zu nehmen?

Berlin - Hartmut Loos ist Lehrer, er steht seit drei Jahrzehnten in Klassenzimmern. Wenn er über Zensuren redet, wie er und seine Kollegen sie gerade in diesen Tagen wieder für die Halbjahreszeugnisse verteilt haben, fällt ihm gelegentlich die Börse ein. Dann denkt er an Kurse, die in überhitzten Zeiten immer weiter steigen – bis irgendwann der Crash kommt, weil der gehandelte Wert der Papiere nicht mehr in Einklang steht mit der tatsächlichen Leistung der Unternehmen. Loos sagt: „Es kann ja nicht ewig so weitergehen.“ Er meint: weiter nach oben. Die Blase, die Loos gern mit den Vokabeln der Börsenwelt erklärt, besteht aus Abiturnoten. Der 60-Jährige ist Schulleiter im Gymnasium am Kaiserdom in Speyer und Vorsitzender des Deutschen Altphilologenverbandes. Er ist nicht der Einzige, dem zunehmend gute Zensuren Sorgen bereiten. Immer mehr Experten warnten zuletzt vor zu guten Abiturnoten, einige sehen eine regelrechte Inflation. Schon stellt sich jene Frage mit Wucht neu, die in bildungsbürgerlichen Kreisen schon seit den bildungspolitischen Reformen der 1970er-Jahre immer mal wieder diskutiert wird: Ist Deutschlands höchster Schulabschluss noch etwas wert? 


„Das kann so auf Dauer nicht weitergehen“
Dieter Brückner vertritt mehr als 2200 Schuldirektoren quer durch das Bundesgebiet. Der Vorsitzende der Bundesdirektorenkonferenz Gymnasien teilt die Sorge vieler seiner Kollegen – und schlägt nun Alarm. „Die Abiturnoten haben sich – wenn man den Bundesschnitt nimmt – in den vergangenen Jahren permanent verbessert. Das kann so auf Dauer nicht weitergehen“, sagt er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Das Abitur dürfe „nicht einfach nur eine Lebensabschnittsbescheinigung sein, sondern muss ein Qualitätsmerkmal bleiben“. Ähnlich hat sich vor Kurzem die Vorsitzende des Philologenverbandes, Susanne Lin-Klitzing, geäußert. Tatsächlich zeigen die Zahlen für die vergangenen zehn Jahre keinen drastischen, aber eben doch einen beständigen Anstieg des Notendurchschnitts der Abiturienten: In Thüringen, wo die besten Zensuren verteilt werden, hat sich der Schnitt zwischen 2007 und 2017 von 2,33 auf 2,18 verbessert, in Sachsen im gleichen Zeitraum von 2,46 auf 2,28. In Brandenburg bestanden zuletzt allein 245 Schüler ihr Abitur mit der Traumnote 1,0 – vor zehn Jahren waren es noch nur 125 Schüler. In Niedersachsen, wo die Noten insgesamt am schlechtesten ausfallen, verbesserte sich der Schnitt innerhalb von zehn Jahren immerhin von 2,71 auf 2,57, in Schleswig-Holstein von 2,62 auf 2,56. 

Die große Frage ist: Woran liegt das? Werden die Schüler immer besser? Oder sinken die Anforderungen? 
Hört man sich unter Lehrern um, spürt man einige Unsicherheit in Bezug auf die Notengebung. „Die Schüler können und lernen sehr viel“, sagt etwa Kathrin Staniek, Englisch- und Französischlehrerin an einem Gymnasium im niedersächsischen Bad Harzburg. „Es verändert aber natürlich etwas, wenn fast die Hälfte eines Jahrgangs Abitur macht“, fügt die 40-Jährige hinzu. „Wenn man auch schwächere Schüler sehr weit mitzieht, gibt es natürlich eine Tendenz, sie nicht im letzten Moment durchfallen zu lassen.“ 

Zahl der Abiturienten ist gestiegen 
Staniek sagt, sie würde sich wünschen, dass die Empfehlungen der Grundschulen für die Schulwahl grundsätzlich verbindlich seien. „Den Kindern tut auch niemand einen Gefallen, wenn sie sich am Gymnasium nur quälen müssen.“ Im Ergebnis schafften es derzeit auch einige an die Uni, „bei denen ich wirklich nicht weiß, wie sie das dort schaffen sollen“, sagt Staniek. Tatsächlich haben sich nicht nur die Noten der Abiturienten in den vergangenen Jahren verbessert, sondern auch die Anzahl der Abiturienten ist gestiegen – ein erklärtes Ziel von Schulpolitikern und Wirtschaft. Ist der Preis dafür eine Senkung des Niveaus? Das ist eine Furcht, die nicht nur viele Lehrer teilen, sondern auch Professoren. Volker Ladenthin, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn, ist einer von ihnen. Er hat nach eigenen Angaben etwa 1500 Klausuren systematisch ausgewertet, ebenso 250 Seminararbeiten und Referate. Dazu kommt seine Erfahrung mit regelmäßigen, standardisierten Lehrveranstaltungen. Auch er glaubt, dass die höheren Abiturientenquoten einen Einfluss auf die Qualität der Abiturienten haben. Es gebe noch immer hervorragende Studenten, sagt er. Aber es starteten eben auch mehr Abiturienten an der Uni als früher, die nicht gut auf die Anforderungen vorbereitet seien. Es gebe „mehr Studierende, die Schwierigkeiten beim einfachen Verstehen theoretischer Texte haben, mehr, die von längeren Texten überfordert sind“. Unter ihnen seien Studenten, „die sehr langsam lesen – und daher die üblichen Textmengen nicht bewältigen können“. Olaf Köller, Professor am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik an der Universität Kiel, hingegen glaubt nicht, dass die Abiturnoten das wesentliche Problem sind. Der Mittelwert in den meisten Ländern läge noch immer nahe bei 2,5 – das sei vollkommen in Ordnung. Mit Blick auf die Studierfähigkeit sagt er aber auch, es sei seit Langem bekannt, dass es spezielle Probleme im Fach Mathematik gebe. „Viele Abiturientinnen und Abiturienten beherrschen nicht den Stoff, der in der Oberstufe unterrichtet wurde“, sagt er. Die Lösung dafür liege aber nicht in einer Notendiskussion, sondern in der Stärkung des Fachs Mathematik. 

Intensiveres Feilschen um Punkte 
Zu einer ausgewogenen Sicht in der Diskussion über Abiturnoten rät bei aller Sorge auch Gymnasiumsdirektor Loos. Einerseits macht er keinen Hehl daraus, dass die Bewertung der Leistungen seiner Meinung nach eine andere als früher sei. „In meinem Lateinabitur im Jahr 1977 hatte ich 1,5 Fehler“, berichtet er. „Das war eine Zwei plus. Heute wären das 14 Punkte, also eine glatte Eins.“ Loos betont aber auch: Es gebe nun mal keine einfachen Lösungen, um dem Phänomen immer besserer Noten zu begegnen. Wenn einzelne Schulen sich kategorisch dem Trend entzögen, schickten die Eltern ihre Kinder eben anderswo hin. Außerdem werde viel intensiver um Punkte gefeilscht als früher – im Zweifel hakten auch engagierte Eltern öfter nach. Härtere – man könnte auch sagen schlechtere – Noten hätten zudem zwei Nachteile, sagt Loos. „Erstens würden wir den einen oder anderen aussieben, der später vielleicht doch sehr gut für ein Ingenieurstudium geeignet wäre – weil er dafür eine tolle Begabung hat“, sagt er. „Und zweitens würde der Run auf die Nachhilfeinstitute zunehmen.“ Einige Experten halten es auch für möglich, dass die Schüler und deren Eltern eben doch mit mehr Eifer an der Sache sind als früher. Sie erkenne in den guten Zensuren den Wunsch von immer mehr Eltern, dass ihr Kind einen guten Entwicklungsweg nimmt, erklärte etwa Sachsens Bildungsministerin Brunhild Kurth (CDU) bereits im vergangenen Jahr. Und fügte hinzu: „Noch etwas kommt hinzu: Vielleicht leisten unsere Lehrerinnen und Lehrer ja einen ganz tollen Job?“ 
All das macht deutlich: Noten sind relativ. In Deutschland sind schließlich nicht einmal die Abi-Prüfungen in den einzelnen Bundesländern direkt vergleichbar. Es gibt zwar einen gemeinsamen Pool an Abituraufgaben, aus dem sich die Länder bedienen können. Aber sie müssen es eben nicht tun. In den Ländern gibt es unterschiedliche Regeln, welche Fächer geprüft werden und wie viele Prüfungen es gibt. Letztlich konkurrieren aber mit ihrer Abi-Note alle um dieselben Studienplätze. Einige Experten sehen sogar in dem Versuch der Vereinheitlichung einen weiteren Grund für die schleichende Noteninflation. Dort, wo Aufgaben zentral aus dem Ministerium gestellt werden und nicht mehr die Pädagogen selbst Vorschläge einreichten, seien die Prüfungen laxer geworden, meinen einige Lehrer. Das Ministerium könne es sich kaum leisten, dass wegen zu anspruchsvoller Aufgaben an weniger leistungsstarken Schulen plötzlich reihenweise Prüflinge durchfielen. Da würden die Aufgaben lieber eine Nummer leichter gestellt. 

Wie sinnvoll ist der Vergleich zu früher? 
Es ist denn auch fraglich, wie sinnvoll der Vergleich mit früheren Generationen überhaupt ist. Der Bildungsforscher Rainer Bölling erklärt: „Karl Marx hat sein Abitur noch zu Bedingungen gemacht, bei denen heute alle Eltern laut Kindesmisshandlung rufen würden. Er wurde – wie seine Altersgenossen – tagelang schriftlich und mündlich in allen Fächern geprüft. In Latein wurde nicht nur vom Lateinischen ins Deutsche übersetzt, sondern auch umgekehrt. Mit Aufgaben, die heute der handelsübliche Lateinlehrer nicht mehr bewältigen würde.“ Eine Lösung für heute? Kaum. Andreas Schleicher ist Chef der berühmten Pisa-Vergleichstudien. Er hält die Debatte um eine strengere Bewertung von Abiturleistungen insgesamt für wenig zielführend. Neben der Vergleichbarkeit, die eine gewisse Verlässlichkeit für Universitäten und Arbeitnehmer bedeute, müsse es vor allem darum gehen, das deutsche Abitur relevanter zu machen. „Die moderne Welt belohnt uns nicht mehr allein dafür, was wir wissen – Google weiß ja fast alles –, sondern dafür, was wir mit Wissen tun können“, sagt der OECD-Bildungsdirektor. Könne ein Schüler sich nicht nur Formeln und Gleichungen merken, sondern wie ein Mathematiker denken? Könne er wie ein Historiker denken, verstehe er, wie das Narrativ einer Gesellschaft entstanden ist und sich weiterentwickelt habe? Aus der Sicht Schleichers ist also weniger das durchschnittliche Niveau der Noten entscheidend, sondern das, was an erlernten Fähigkeiten hinter ihnen steckt. Hohe Börsenkurse sind ja auch kein Problem – wenn in den Unternehmen echte Substanz vorhanden ist. 

Das sagen Experten zum NRW-Abitur 
Bildungsexperten und Lehrerverbände beklagen das sinkende Niveau des Abiturs an Gymnasien in Nordrhein-Westfalen. Sie kritisieren, dass die einstige Eliteschule zur Volkshochschule verkommen sei. 1992 legten noch 31 Prozent das Abitur ab, im vergangenen Jahr waren es mehr als 50 Prozent. Im Grunde genommen würden im Abitur nur Lesefertigkeiten abgefragt, urteilt der Bildungsforscher Hans-Peter Klein. Um eine Abitur-Klausur im Fach Biologie zu bestehen, müsse man keinen Leistungskurs besuchen, sagt der Professor für Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt. 

Unis beklagen fehlende Studierfähigkeit 
Er fordert, dass zumindest das fachliche Niveau angehoben und die Noteninflation gestoppt werden müsse. Auch mit einer Drei oder Vier sollte man studierfähig sein und einen Studienplatz erhalten können. „Was bringt es den Studenten, wenn alle eine Eins im Abi haben. Das ist sinnlos“, sagt Klein. Die Universitäten beklagen, dass viele Studenten zum Teil nicht studierfähig seien. Dies ist auch deshalb überraschend, da es nach einem Beschluss der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 2012 seit 2017 ein bundesweites Zentralabitur gibt. Das ursprüngliche Ziel war es damals, die teilweise erheblichen Unterschiede vor allem in den fachlichen Anforderungen der einzelnen Bundesländer nicht weiter auseinanderdriften zu lassen. 

Kritik an Zentralabitur 
Die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Laura Pooth, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), dem auch der „Kölner Stadt-Anzeiger“ angehört: „Ein Zentralabitur führt eher dazu, dass das Niveau sinkt und nivelliert wird.“ Bei dem auf den eigenen Unterricht abgestimmten Ansatz „ist es oft mehr gelungen, in die Tiefe zu gehen“, sagt Pooth. Die Vorsitzende des Philologenverbandes, Susanne Lin-Klitzing, fordert daher strengere Abiturnoten. Dies sei erforderlich, „wenn wir wollen, dass die jungen Menschen gut auf das Arbeitsleben oder ein Studium vorbereitet werden“. Auch sollte ein „sehr gut“ nur erhalten, wer 100 Prozent der Aufgaben richtig löse und nicht, wie derzeit, 90 Prozent.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen