Samstag, 9. Dezember 2023

Pisa-Schock: Bildungshistoriker fordert härtere Bewertung

Aus der deutschen Schule ist ein Problemkind geworden. Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth spricht über die Gründe für den Abstieg des einstigen Musterschülers – und sagt, warum er eine strengere Benotung fordert. 

SPIEGEL: Herr Professor Tenorth, Deutschland hat bei der Pisa-Studie so schlecht abgeschnitten wie noch nie. Wie schlimm steht es um die deutsche Bildungsnation? 
Tenoth: Ehrlicherweise habe ich auf ein so dramatisches Ergebnis gehofft. Es muss endlich ein Aufschrei durch die Landschaft gehen, der laut genug ist, gehört zu werden. So wie 1964, als der Philosoph Georg Picht die »Bildungskatastrophe« ausrief. Danach wurde ein Planungsgremium eingerichtet und Bildung ein zentrales Thema auch in der Bundespolitik. Etwas Ähnliches brauchen wir auch jetzt. DER SPIEGEL fasst die wichtigsten News des Tages für Sie zusammen: Was heute wirklich wichtig war - und was es bedeutet. Ihr tägliches Newsletter-Update um 18 Uhr. Jetzt kostenfrei abonnieren. 

SPIEGEL: Aber Aufschreie gab es doch schon oft. Nach der ersten Pisa-Studie 2001 war die Dramatik groß. Nur verändert hat sich wenig. 
Tenoth: Genau das ist jetzt die Frage: Schaffen wir es einen Reformwillen wie in den Sechzigerjahren zu entfachen? Da teile ich Ihre Skepsis, weil ich vermute, dass alle Politiker das Thema mit spitzen Fingern anfassen werden. 

SPIEGEL: Warum? 
Tenoth: Weil sie kühl abwägen müssen, was sie dabei gewinnen können. Früher konnte man sich mit Bildungspolitik profilieren. Heute dagegen vor allem verlieren. Jemand, der es ernst meint, müsste die Föderalismus-Problematik aufwerfen, Finanzfragen neu aufrollen, die Lehrerverbände verärgern und sich mit den Universitäten anlegen. Dafür sind die wenigsten mutig genug. 

SPIEGEL: Sie haben zur Geschichte des deutschen Bildungssystems lange geforscht. Wann ist Deutschland international ins Hintertreffen geraten? 
Tenoth: Leistungsmäßig begann der Abstieg aus meiner Sicht zwischen Ende der Fünfzigerjahre, Anfang der Sechzigerjahre. Das hängt mit einem Wandel in den Erwartungen zusammen. Die Anforderungen an das deutsche Bildungssystem haben sich in der Geschichte immer wieder radikal verändert. Heute existiert die Erwartung, dass das Bildungssystem die Aufgabe habe, mit der Herstellung von Bildungsgleichheit auch eine gesellschaftliche Gleichheit zu befördern. Vor der Weimarer Republik war das überhaupt keine Kategorie. Da war Klassenkampf die Waffe, um soziale Ungleichheiten zu bekämpfen, nicht Bildung. Selbst die SPD hat noch 1960 einen Bildungsparteitag gemacht, der vollständig unter der Überschrift von Leistung und Auslese stand. Das veränderte sich in den Sechzigerjahren mit den Reformen nach der letzten »Bildungskatastrophe«. 

SPIEGEL: Was war passiert? 
Tenoth: Georg Picht veröffentlichte damals eine Artikelserie, die den Fakt ins Zentrum holte, dass in Deutschland nur 6 Prozent der Schüler eines Jahrgangs Abitur machte. In Frankreich und Skandinavien waren es bereits um die 20 Prozent. Er sah darin eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland und die Demokratie. Außerdem forderte er bessere Ausstattung und Bildungsgleichheit unabhängig von sozialer Herkunft. 

SPIEGEL: Wie wirkte sich das aus? 
Tenoth: Es veränderte die Schulkultur. Das System wurde um Gesamtschulen erweitert und das politische Credo lautete eher: Fördern statt Auslese. Diese Mentalitätsverschiebung erreichte schnell die Schulpraxis und wurde durch die 68er-Bewegung weiter verstärkt. Als ich anfing zu studieren, galt der Leistungsbegriff als Ausdruck unmenschlichen, kapitalistischen Denkens, das in der Schule nichts zu suchen haben sollte. Das zeigte sich schnell in den Zeugnissen und wirkt bis heute nach. 

SPIEGEL: Was meinen Sie? 
Tenoth: Mein Indikator ist immer, wie viele Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen. Früher waren die Zahlen sehr hoch. Doch sie sanken stetig. Unter Angela Merkel gab es einen Bildungsgipfel unter dem Motto: Keiner soll ohne Abschluss gehen. Inzwischen liegt die Zahl nur noch bei knapp 6 Prozent. Vergleicht man das mit den Pisa-Daten, zeigt sich, dass viele der Jugendlichen, die selbst über die basalsten Fähigkeiten nicht verfügen, trotzdem einen Abschluss bekommen. Das zeigt die teilweise absurde Bewertungspraxis. Wer eine Fünf gibt, gilt schnell als Leistungsterrorist. Es gibt sogar Studien, die zeigen: Funktionale Analphabeten können heute Abitur machen. S

SPIEGEL: Aber war Egalität nicht immer auch eine Stärke des deutschen Systems? 
Tenoth: Definitiv. Seit das Abitur 1834 verpflichtend für den Universitätsbesuch wurde, ist das deutsche Universitätssystem im Zulassungsverfahren so egalitär wie kaum ein anderes. In vielen Ländern werden beim Zugang zu den Hochschulen die Schulabschlüsse zwar beachtet, aber entwertet, weil die Hochschulen eigene Aufnahmeprüfungen machen. Selbst in Yale und Harvard führte das dazu, dass sehr lange fast nur Kinder von Alumni angenommen wurden. Frauen, Schwarzen, Juden, Katholiken oder Absolventen von städtischen Schulen wurde der Zugang selbst bei guten Leistungen verwehrt. Anders in Deutschland. Die These, das deutsche Bildungssystem würde immer nur Ungleichheit fortschreiben, ist deshalb auch nicht richtig. Deutschland war sogar oft Vorreiter. 

SPIEGEL: Welche wichtigen Wegmarken gab es? 
Tenoth: In der Geschichte gab es vier große Egalisierungsschübe. Der Erste fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt. Damals wurde die schon länger existierende Unterrichtspflicht durch eine flächendeckende Beschulung realisiert. Der Grad der Alphabetisierung war gerade in Preußen extrem hoch. Deutschland wurde dafür weltweit bewundert. 

SPIEGEL: Damals legte man auf die Schulbildung für Mädchen allerdings noch nicht viel Wert. Tenoth: Das geschah im zweiten Schub in der Weimarer Republik. Der betraf die allmähliche Aufhebung der Bildungsbenachteiligung von Frauen, die seit den Fünfzigerjahren vollends verwirklicht ist. Auch hier war Deutschland früh dran. Es gab mehrere amerikanische Experten, die Anfang des 20. Jahrhunderts fasziniert vom deutschen Mädchenschulwesen berichteten. Der dritte Effekt war dann, dass seit den Fünfzigerjahren die konfessionellen und regionalen Unterschiede bei der Bildung aufgehoben wurden. Und schlussendlich das Aufholen bei schichtspezifischen Unterschieden. Unter den Abiturienten, die studierten waren 1930 weniger als 1 Prozent Arbeiterkinder. Diese Zahl steigt ab 1950 radikal an. Heute sind wir bei einem Rekrutierungsindex von fast 30 Prozent. 

SPIEGEL: Trotzdem wird dem deutschen Schulsystem immer wieder vorgeworfen, es wäre veränderungsresistent. Zu Unrecht? 
Tenoth: Historisch ist das Quatsch. Sie hätten mal einem Mann um 1830 erzählen sollen, dass man irgendwann dank beruflicher Erfahrungen Abitur machen kann. Oder mit einer Meisterprüfung studieren. Der hätte er ihnen nicht geglaubt. Das System und sein Personal waren immer ungeheuer lernfähig und hat sich stets angepasst. Darauf kommt es auch jetzt an. 

SPIEGEL: Was sind denn die Gründe für die aktuelle Misere? 
Tenoth: Das Problem hat unterschiedliche Ebenen. Nummer eins ist ein Steuerungsproblem zwischen Bund und Ländern. Würde man sich die Befunde der Pisa-Studie in Ruhe angucken, würde man sehen, dass die Ergebnisse in den Bundesländern nicht gleich schlecht sind. Die Länder sind sehr unterschiedlich ehrgeizig. Hamburg etwa hat in den vergangenen Jahren viel getan, aber das wird in der Pisa-Studie nicht aufgeschlüsselt. Sie geht auf regionale Unterschiede nicht ein. Ein zweites Strukturproblem ist sicher die personelle und sachliche Ausstattung. Die Schulen müssen besser ausgerüstet werden. Die Bildungspolitik hat viel experimentiert, aber den Schulen nie die Unterstützung geliefert, die sie gebraucht hätten. 

SPIEGEL: An Föderalismus und Lehrermangel allein kann es aber doch nicht liegen. Immerhin war man in der Vergangenheit mit dem gleichen System erfolgreicher. Und Singapur, das bei Pisa an der Spitze thront, hat pro Schüler nicht mehr Lehrer zur Verfügung als Deutschland.
Tenoth: Entscheidend für den Erfolg von Ländern wie Singapur, Taiwan oder Japan ist, dass dort ein anderes Verhältnis zwischen Eltern, Schule und Staat existiert. Spricht man in Japan mit Eltern, zeigt sich, dass sie die Schulkarrieren ihrer Kinder, als eigenes Lebensprojekt begreifen. Sie unterstützen, sie fordern, sie sind präsent. Eine Mutter, die nicht richtig Deutsch spricht, kann die schulische Karriere ihres Kindes nicht in der gleichen Art begleiten. Da hilft der Weg, den das Bildungssystem in Deutschland anbietet, wenig. Es geht um eine andere pädagogische Kultur, die mit anderen Wertvorstellungen, einer anderen Leistungsbereitschaft und einer anderen Beziehung zur Schule einhergeht. 

SPIEGEL: Was ist das Problem im Verhältnis deutscher Eltern zur Schule? 
 Tenoth: In Deutschland gibt es traditionell eine große Distanz zwischen dem Bildungssystem und den unterschiedlichen Sozialmilieus. Die Schule wird nicht als sozialer Ort im Kiez wahrgenommen, sondern als Institution, die weit weg erscheint und mit der man eher selten eng zusammenarbeitet. Hier liegt aus meiner Sicht einer der Knackpunkte. Erst danach kommen die Aspekte, die häufig genannt werden ins Spiel: soziale Ungleichheit, Armut und Migration. 

SPIEGEL: Hatte Migration einen großen Einfluss auf das Ergebnis? 
Tenoth: Migration hat natürlich einen Effekt. Aber wer sich die Ergebnisse im Detail anschaut, sieht, dass unter den sogenannten »Risikoschülern«, also Kindern, die die Mindestanforderungen nicht erfüllen, auch viele mit deutscher Muttersprache sind. Migration ist also eher ein Vergrößerungsglas dafür, dass die Arbeit der Schulen unzureichend ist. Fehlende Ausstattung verschärft sich dann durch plötzlich eintretende Zusatzeffekte wie die ukrainischen Flüchtlinge. Für diese Kinder gibt es dann nicht genug Lehrer, nicht genug Räume und keine gute Betreuung. Aber als Entschuldigung ist Migration zu wenig. 

SPIEGEL: Was muss passieren? 
Tenoth: Aus meiner Sicht ist die Einzelschule der Schlüssel. Sie muss wieder in die Lage versetzt werden, flächendeckend in der Qualität zu arbeiten, wie sie es könnte. Das mag erst mal paradox klingen, weil es parallel auch bessere Rahmenbedingungen braucht: Geld, Personal, Ausstattung. Aber dann muss die Macht von der Politik zurück ins Klassenzimmer. Aus der Pisa-Studie wissen wir, dass sich viele Schüler in der Schule unwohl fühlen oder langweilen. Das muss sich ändern. 

SPIEGEL: Wie zuversichtlich sind Sie? 
Tenoth: Ich bin nicht pessimistisch, weil ich glaube, dass wir kluge Lehrer und kluge Kinder haben. Es ärgert mich deshalb auch, dass Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der OECD, einmal behauptet hat, die deutsche Schule würde nur zweitklassige Roboter ausbilden. Das ist einer der dümmsten Sätze, die ich je gehört habe. Die deutsche Schule kann viel. Aber wir müssen sie stärker unterstützen.

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