Freitag, 1. Dezember 2023

Deutschunterricht in der Krise: Notenschnitt Vier minus

Der kürzlich vorgestellte Ländervergleich des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) zeichnet ein deprimierendes Bild. Die Sprachkompetenzen von Neuntklässlern in den Fächern Deutsch und Englisch waren im Jahr 2022 deutlich schlechter als bei der vorangegangenen Erhebung sieben Jahre zuvor, deren Ergebnis schon alarmierend genug ausgefallen war. Die Förder- und Aufholprogramme der vergangenen Jahre haben offenbar nichts gebracht. Die wohlfeile Erklärung, vor allem im Fach Deutsch machten sich die typischen Corona-Spät- und Migrationslangzeitfolgen bemerkbar, klingt fahrlässig, zumal sie nicht mit Gegenmaßnahmen einhergeht. 

Schlechtes Textverständnis sorgt für Probleme in anderen Fächern 
Muss man sich, wenn 44 Prozent der Schüler angeben, sie hätten nur geringes Interesse am Fach Deutsch, nicht fragen, ob der Bildungsverfall allmählich so stark fortgeschritten ist, dass von vernünftigem Unterricht nicht mehr die Rede sein kann? Hinzu kommt, dass diejenigen, die Probleme mit dem Textverständnis, der Orthographie und dem Zuhören haben, auch in den meisten anderen Fächern auf keinen grünen Zweig kommen. Bei manchen sorgte der jüngste IQB-Test für ein wenig Hoffnung durch die Tatsache, dass die Ergebnisse im Englischen zum Teil besser waren als beim Bildungstrend von 2015. Allerdings haben sich bei genauem Hinschau nur die guten Schüler verbessert. Und hellhörig machen sollte, dass die Studienautoren die Nutzung digitaler Medien für diese partielle Leistungssteigerung verantwortlich machen. Klar, die Motivation zum Erlernen einer Fremdsprache erhöht sich immens, wenn man als Jugendlicher anschließend die coolen Kurzvideos, Songtexte und Serien versteht. Doch sollte man die Tiefe des damit verbundenen Sprach- und Textverständnisses nicht überbewerten. Die im IQB-Test für das Englische erhobene Lesekompetenz lässt sich jedenfalls nicht direkt mit der für das Fach Deutsch abgefragten vergleichen, wie die Studienleiterin Petra Stanat, Direktorin des IQB an der Humboldt-Universität, im Gespräch mit der F.A.Z. deutlich macht. 

Deutsch mit Standortnachteilen 
Für den Deutschunterricht gibt es jedenfalls keine vergleichbare, popkulturell vermittelte Motivation. Von einer elektrisierenden Schiller- oder Kafka-Streamingserie fehlt bei Netflix jede Spur, und auch bei Tiktok wird die Thematisierung von Rechtschreibregeln nicht so bald zum Trendthema werden. Petra Stanat leitet vom Bildungstrend 2022 ab, dass sich die Englischdidaktik in den vergangenen Jahren stark verbessert habe, die Anwendbarkeit der Sprache im Alltag sei stark in den Vordergrund gerückt worden. Jetzt müssten sich auch die Deutschdidaktiker etwas einfallen lassen. Cornelia Rosebrock, bis zum Sommersemester 2023 Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Literaturdidaktik an der Goethe-Universität in Frankfurt, sagt im Gespräch, die Deutschdidaktiker machten gewiss keine schlechtere Arbeit als die Kollegen am anglistischen Institut, doch habe das Fach Deutsch eine Reihe von Standortnachteilen. 

Allein gelassen in der Krise 
So sei es eine sogenannte schwachstrukturierte Domäne, umfasse also nicht nur das fachliche Lernen, den Sprach- und Literaturunterricht, sondern habe auch mit dem sozialen Lernen, der Persönlichkeitsentwicklung und der ästhetischen Erfahrung zu tun. Für Schüler sei „Deutsch“ daher oft nicht transparent in seinen Zielen. Hinzu komme, dass der IQB-Bildungstrend, der ja die Leistungen von Neuntklässlern abfragt, die Schüler in einer krisenhaften Phase ihrer Leseentwicklung erreiche. Selbst diejenigen, die vor der Pubertät begeisterte Freizeitleser waren, stellten sich mit Beginn derselben neue Fragen, die durch die Bücher aus Kindertagen nicht mehr beantwortet würden. Viele gerieten daher in eine „motivationale Krise“. Und ausgerechnet in dieser Neuorientierungsphase sei die Schule keine Hilfe; im Unterricht würden oft nicht mehr zeitgemäße Texte gelesen, individuelle Lektüreempfehlungen gebe es fast nicht. 

Der Rat: lebensnahe Lektüren auswählen 
Aus Cornelia Rosebrocks Sicht muss der Deutschunterricht sich, aufbauend auf einer möglichst frühen Sprachförderung, neu formieren: Schülern müsse besser erklärt werden, worin der Sinn der Auseinandersetzung mit Literatur bestehe, und dieser Sinn müsse im Unterricht dann auch zutage treten. Vor allem in den nicht gymnasialen Schulformen rät Rosebrock dazu, lebensnahe Lektüren auszuwählen, die existenzielle Fragen stellen. Schüler sollten nicht auf die Erzeugung von Interpretationsversatzstücken getrimmt werden, Lehrer sollten sich vielmehr zurücknehmen und persönliche Bezüge zur Literatur ermöglichen. Bei der Leseförderung solle sich Deutschland die Niederlande zum Vorbild nehmen, die sich erfolgreich eine individuelle Lesebiografie jedes Schülers zum Ziel gesetzt hätten (ein ausführliches Interview mit Cornelia Rosebrock unter faz.net/bildungstrend). 

Unterricht zum Fremdschämen 
Wie weit die deutsche Schulrealität von alldem entfernt ist, geht aus der folgenden Schilderung Cornelia Rosebrocks hervor: „In der Hauptschule funktioniert das Behandeln von literarischen Texten oft so, dass im Unterricht gemeinsam Kapitel gelesen werden, weil vielen das Allein-Lesen schwerfällt, dann wird eine Zusammenfassung an die Tafel geschrieben, dann schreiben die Schüler die Zusammenfassung ab. Und wenn sie von allen Kapiteln die abgeschriebenen Zusammenfassungen haben, schreiben sie eine Zusammenfassung des Buches. Bei so etwas kann man eigentlich gar nicht zuschauen.“ Ebenso fatal wie der Lehrermangel stellt sich der Mangel an Anspruch dar. Dass auch an Realschulen der Deutschunterricht inzwischen zum Teil auf erschreckend niedrigem Niveau stattfindet, berichtet eine Realschullehrerin aus dem Speckgürtel von Stuttgart, die anonym bleiben möchte. 

Leistungsscheu bei den Eltern 
Mit einem Abstand von fast zehn Jahren kam sie an ihre frühere Schule zurück und war schockiert davon, wie in der Zwischenzeit das Niveau im Fach Deutsch nachgelassen hatte. Seitdem Schulempfehlungen für Eltern nicht mehr bindend seien, empfinde sie die Realschule als ausgehöhlt, man nähere sich dem Hauptschulniveau an. Einige Schüler in der fünften Klasse bekämen „keinen geraden Satz“ heraus, im Literaturunterricht sei an die anspruchsvollen Lektüren früherer Tage nicht mehr zu denken, zu viel Zeit gehe inzwischen durch simple Worterklärungen verloren – und das nicht nur bei Jugendlichen mit Migrationsgeschichte oder aus sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen. Vielen Schülern, denen als Kindern nicht mehr vorgelesen wurde, sei das Präteritum, das frühere Jahrgänge allein von den Märchen her kannten, fremd geworden. Diktate mit einem Notenschnitt unter 4,5 seien an der Tagesordnung. Inzwischen habe sie es aufgegeben, in der neunten und zehnten Klasse Hausaufgaben in Deutsch zu stellen, da sie nur von weniger als zehn Prozent der Schüler erledigt würden, im Unterricht könne man darauf nicht aufbauen. Bei Klausuren in der Abschlussklasse fehlten nicht selten bis zu 40 Prozent der Schüler, entschuldigt von ihren Eltern. 

Vielen Schülern fehlt es an Anstrengungsbereitschaft
Die Lehrerin aus dem Stuttgarter Raum will nicht bestätigen, dass Schüler heute kein Interesse mehr am Fach Deutsch hätten. Es fehle den meisten aber an Anstrengungsbereitschaft, die das Fach zuweilen durchaus erfordere und die von vielen Eltern nicht mehr vermittelt werde. Bei vielen Müttern und Vätern, meist Doppelverdienern, gebe es „fast schon eine Scheu, Leistung von ihren Kindern einzufordern“. Die Folgen von Corona müssten dann oft als Ausrede für schwache Ergebnisse herhalten. Nach all den niederschmetternden Details erzählt die Lehrerin doch noch etwas Aufmunterndes, von einer Theateraufführung, die sie kürzlich mit einer Klasse besuchte. Einer der Schüler konnte die darin liegende Wertschätzung kaum fassen und sagte: „Krass, dass Sie mit uns Asozialen ins Theater gegangen sind. Jetzt bin ich intellektuell.“ Von dieser Aussage ließe sich Folgendes ableiten: Da die in den vergangenen Jahren vollzogene Reduktion des Literaturunterrichts nicht zu einer Verbesserung des Interesses am Fach Deutsch geführt hat, liegt der Gedanke nahe, dass mit einem breiter angelegten, anregenden Literaturunterricht das Gegenteil bewirkt werden könnte. 
 
Standardfähigkeiten wieder sicherstellen 
Niemand bezweifelt, dass für kleine Kinder das Vorlesen ein Grundbedürfnis befriedigt – wieso hält man bei Jugendlichen ein ähnliches literarisches Interesse für so unwahrscheinlich? Nicht nur bei vielen Schülern, auch bei Lehrern und Eltern scheinen die strategischen Ziele, die mit dem Deutsch- und Literaturunterricht verbunden sind, in Vergessenheit geraten zu sein. Auch die Bildungsträger machen den Eindruck, als befänden sie sich in einer pubertären Lesemotivationskrise. Doch führt angesichts der nicht abreißenden Negativtrends kein Weg daran vorbei, Standardfähigkeiten im Fach Deutsch wieder sicherzustellen. Dieser Weg führt auch zurück zur Literatur.

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