Donnerstag, 7. Dezember 2023

Was sagt uns die Studie wirklich?: „Ein Ausstieg aus Pisa könnte sinnvoll sein“

Unterschiedliche Stichproben, falscher Fokus - die Bildungsforscher Heiner Barz kritisiert schon länger die Pisa-Methodik. Statt auf das Ranking zu schauen, solle man sich mit den offensichtlichen Problemen im deutschen Schulsystem beschäftigen. 

Herr Barz, Sie kritisieren die Pisa-Studie seit Jahren. Was ist das Problem an der Erhebung? Die Testbereiche sind seit 23 Jahren dieselben: Lesen, Mathematik, Naturwissenschaft. Einerseits ist das verständlich, weil man damit eine Vergleichbarkeit herstellen will. Andererseits ist das eine Blickverengung: Bereiche wie Geschichte, Fremdsprachen, kulturelle Bildung oder Kritikfähigkeit werden ausgeklammert – dabei sind die genauso wichtig. Wenn man sich die Aufgaben zur Lesekompetenz ansieht, dann ist damit eher sowas wie „Fahrplanlesefähigkeit“ gemeint – nicht etwa ein literarisches Interpretieren von Texten. 

Sie bemängeln auch, wie mit den Daten der Pisa-Erhebung umgegangen wird. Können Sie Ihre Kritik an einem Beispiel konkretisieren? 
Die Autoren der „Unstatistik des Monats“ haben mehrfach nachgezeichnet, wie weit sich manche Schlagzeile von den Pisa-Daten entfernt hat. 2013 konnten sie zeigen, dass die vermeintlich verbesserten Mathematikleistungen der deutschen Schüler sich in Luft auflösten, sobald man die veränderte sozio-demographische Struktur der Stichprobe herausrechnete. Die entsprechende Abbildung unter Berücksichtigung der sozialen und demographischen Veränderungen befand sich gut versteckt im Abschlussbericht. Die damalige Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung „Schulische Bildung in Deutschland besser und gerechter“ war also eine Überinterpretation – oder Wunschdenken. 

Amerikanische Forscher publizierten 2018 einen Beitrag im Fachmagazin „Science“ unter dem Titel: „Rankings bekommen zwar Schlagzeilen. Aber sie sind oft irreführend.“
Besser kann man es nicht ausdrücken! 

Darin berichten sie, dass in China lange Zeit Schülerinnen und Schüler vom Land nicht die Schulen in der Stadt besuchen durften. Die Forscher schreiben auch, dass in der Türkei und in Mexiko 40 Prozent der 15-Jährigen schon gar nicht mehr zur Schule gingen, wenn Pisa ansteht. Wie repräsentativ ist der Leistungsvergleich dann noch? 
Der Umstand, dass es in Chinas Metropolregionen, etwa in Peking oder Shanghai, Millionen Wanderarbeiter mit ihren Familien gibt, die keinen regulären Aufenthaltsstatus und damit auch kein Recht auf Schulbesuch haben, ist gut dokumentiert. Wenn dieser Teil der Bevölkerung in Pisa nicht vorkommt, ist das natürlich ein Problem und auch eine mögliche Erklärung für die Spitzenplätze der Chinesen. Für die traditionell auf PISA-Spitzenplätze abonnierten asiatischen Staaten wissen wir, dass die höhere Rechenleistung mit einem höheren Stress- und Angstpegel korreliert. Und wir wissen auch, dass es in China und Japan ein fast obligatorisches, wenig kindgemäßes Nachhilfewesen gibt, in dem Eltern ihre Kinder anmelden, weil die weitere berufliche Karriere ganz entscheidend vom Schulerfolg abhängt. 

Wenn der messbare Pisa-Erfolg so sehr von der Auswahl der Stichprobe abhängt, wie sinnvoll ist es dann, Lehren aus anderen Schulsystemen für unser Schulsystem zu ziehen? 
Die Idee, dass man eine pädagogische Erfolgs-Methode einfach importieren könnte, ist unrealistisch. Die Unterschiede in den Traditionen der verschiedenen Bildungssysteme, ihre Einbettung in die Gesellschaft und Wirtschaft, wie lange Kinder zur Schule gehen, wie die Klassen zusammengesetzt sind, muss man in Erwägung ziehen, wenn man vergleichen will. Zu Beginn des Pisa-Hypes pilgerten ja ganze Bildungsdelegationen nach Finnland, das damals am besten abgeschnitten hatte, aber Skeptiker sprachen vom „Pisa-Schwindel“. Unter anderem deshalb, weil es in Finnland im Unterschied zu Deutschland nur eine kleine Gruppe von migrantischen Kindern gab – und deren mangelhafte schulische Integration war alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Es ist wichtig, dass Schüler einen möglichst konkreten Bezug der schulischen Inhalte zu ihrer Lebenswelt erleben können. Das gilt für biologische Vorgänge etwa im Schulgarten genauso wie fürs Rechnen: Wer in einer Schülerfirma, die T-Shirts bedruckt, für Einkauf, Lagerhaltung, Preiskalkulation verantwortlich ist, hat einen durchaus direkten Bezug zu Mathe. In dieser Hinsicht sind viele Schulen in den letzten Jahren erfreulicherweise aktiv geworden. 

Laut Pisa ist die soziale Herkunft in Deutschland immer noch extrem wichtig, für den Bildungserfolg ist. Warum bekommen wir das nicht in den Griff? 
Der Düsseldorfer Bildungsforscher Rainer Bölling ging der „Mär von der sozialen Ungerechtigkeit“ nach und fand überraschenderweise, dass der viel gelobte Pisa-Spitzenreiter Singapur in der Frage der sozialen Ungleichheit in den Originaldaten schlechter dasteht als Deutschland – ohne dass das jemals in einem Pisa-Bericht problematisiert worden wäre. Dasselbe gilt für China oder Frankreich. Glaubt man den aktuellen Pisa-Messungen von 2023, dann verfügt Kambodscha über das „gerechteste“ Bildungssystem der Welt – wenn man indessen berücksichtigt, dass Kambodscha auf der Pisa-Rangliste den allerletzten Platz mit 336 Punkten belegt, dann dürften sich Forderungen wie „von Kambodscha lernen“ doch recht schnell verflüchtigen, wie Bölling herausgefunden hat. 

Sind gar keine der internationalen Leistungsprüfungen sinnvoll? 
Wenn sich die deutsche Bundesbildungsministerin hinstellen würde und – wie es von Experten empfohlen wird – verkünden würde, „Deutschland steigt aus Pisa aus“, dann würde man ihr vorwerfen, dass sie sich aus der Verantwortung stehlen wolle. Trotzdem könnte ein solcher Schritt sinnvoll sein, um sich intensiv und in Ruhe mit den tatsächlichen Bildungs-Herausforderungen unserer Zeit zu beschäftigen. 

Worin sehen Sie die größten Herausforderungen des deutschen Bildungssystems? 
Wenn man mit Schulpraktikerinnen und -praktikern vor Ort spricht, dann wissen die durchaus – auch ganz ohne Pisa-Daten -, wo gegenwärtig die Probleme liegen: Etwa, dass die deutsche Politik durch die Einwanderung von Migranten auch die Schulen vor massive Probleme stellt. Das trifft natürlich weniger die Gymnasien – aber für Grund-, Haupt-, Real- und Gesamtschulen dürfte der hohe Anteil der Schüler ohne oder mit geringen Deutschkenntnissen auch zukünftig kaum zu bewältigen sein. Allein für das vergangene Schuljahr 2022/23 meldet das Statistische Bundesamt einen Zuwachs von 22 Prozent an Schülern mit ausländischem Pass, was primär auf ukrainische Schüler zurückzuführen ist. Dabei sind die ausländischen Schüler nur ein kleiner Teil der gesamten Schülerpopulation mit Migrationshintergrund. Im Durchschnitt weisen über 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland einen Migrationshintergrund auf. Deren Kompetenzprofil liegt beträchtlich unterhalb der Schüler mit deutscher Herkunft. Dabei muss man differenzieren: Schüler mit Migrationshintergrund, die hier in Deutschland geboren sind, liegen im Mittel nah an dem Kompetenzprofil der Schüler mit deutscher Herkunft. Ein zweites Problem ist die viel beschworene „digitale Bildungsrevolution“. Viele Pädagogen und Bildungsexperten sehen im zu frühen Einsatz von Bildschirmmedien in Kita und Schulen mehr das Problem als die Lösung. Sie verlangen vielleicht nicht nach einer neuen „Kreidezeit“ – aber doch nach einer Rückbesinnung auf die lebendige Lehrer-Schüler-Begegnung, auf das fruchtbare Unterrichtsgespräch und auf den pädagogisch gestalteten Rhythmus von Anstrengung und Entspannung in der Eroberung neuer Wissenswelten. 

Sie sind nicht der Einzige, der die Pisa-Studie kritisiert. Kommt davon etwas in der politischen Umsetzung an? 
Ich hatte vor ein paar Tagen den Eindruck, dass sich die öffentliche Wahrnehmung von PISA etwas gedreht hätte: Ich bekam Anfragen von Medienhäusern, die bereits vor der Veröffentlichung der neuen Ergebnisse nach einer kritischen Bewertung von Pisa fragten. Wenn ich allerdings nun auf die einsetzende Pisa-Berichterstattung schaue, dann habe ich den Eindruck, dass die Bildungspolitik sich weiter an den Schlagzeilen der OECD-Bildungsdirektion orientiert.

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