Dienstag, 19. Dezember 2023

„Der Leistungsgedanke ist abgeschafft“

Gewalt an Schulen, massenhaft Fehltage und arbeitsmarkt- untaugliche Schulabgänger: In seinen Jahrzehnten als Berliner Hauptschullehrer und Schulleiter hat Michael Rudolph all das erlebt. Und: Ein Erfolgsrezept dagegen gefunden. Schulinspektoren der Hauptstadt hat er damit „hoch irritiert“. 

WELT: Herr Rudolph, von Anfang der 2000er bis 2021 waren Sie Rektor der Berliner Friedrich-Bergius-Schule. Als Sie antraten, war sie eine berüchtigte Brennpunktschule. Wenige Jahre später galt sie als vorbildlich, bis heute. Sie hatten weder Extra-Geld noch -Personal. Also ließen Sie kurz nach Amtsantritt die äußere Türklinke der Eingangstür abschrauben. Wie führt das eine zum anderen? 

Michael Rudolph: Wir hatten ein Riesenproblem: Massenhaft hatten Schüler 25, 30, 35 unentschuldigte Fehltage. Im Halbjahr. Eins ist aber klar: Wer dauernd zu spät oder gar nicht kommt, der wird im Beruf keinen Erfolg haben und auch nichts von dem lernen, was er im Leben braucht. Also mussten wir dringend handeln. Nachdem die Türklinke draußen weg war, fiel die Tür nach dem Klingeln ins Schloss – und wer zu spät kam, kam gar nicht mehr rein. Sondern: Man musste läuten. 

WELT: Und dann? 

Rudolph: Schaute man keine Löcher in die Luft und saß auch nicht beim Sozialpädagogen auf dem Schoß, sondern musste eine gemeinnützige Tätigkeit verrichten: den Schulhof reinigen oder den kleinen Stadtpark vor der Schule. Danach durfte man – pünktlich – in die nächste Stunde, der laufende Unterricht wurde nicht gestört. Und: Spätestens nach dem dritten Mal gab es ein Gespräch mit dem Schüler und seinen Eltern. Den Eltern habe ich vermittelt: Es ist zuallererst Ihre Pflicht, dass das Kind pünktlich ist. Da kann übrigens helfen, bei einer Summe X von Fehltagen die Schulbescheinigung auch mal zurückzuhalten – da hängen nämlich im Zweifel viele Sozialleistungen dran. Und dem Schüler: Dass Unpünktlichkeit ihm am meisten selbst schadet, bei Jungs gerne mit dem Beispiel: Stell dir vor, du bist Bundesliga-Mittelstürmer und bei Anpfiff nicht auf dem Platz. Das versteht eigentlich jeder und sagt: Entschuldigung, passiert nie wieder. 

WELT: Reicht das? 

Rudolph: Nun, ich habe auch gesagt: Falls es dir dann doch noch einmal passiert, kommst du eine Woche lang eine Stunde früher zur Schule und hilfst dem Hausmeister. Ich würde sagen: In neun von zehn Fällen hat das gereicht. 

WELT: Wenn Sie das durchgezogen haben, sind sicher die Eltern Sturm gelaufen? 

Rudolph: Nein, die waren ja immer mit im Boot. 

WELT: Und die Schüler? 

Rudolph: Die Schüler haben das häufig als Zuwendung empfunden. Einmal hat ein Fernsehteam, die kamen damals häufiger an unsere Schule, in der Früh zufällig einen Schüler beim Blätterfegen angetroffen. Die wollten wissen, warum er das macht, und der Schüler sagte: „Mein Schulleiter sagt immer, ich soll ja einen ordentlichen Beruf haben später, also mache ich das jetzt und komme nie wieder zu spät.“ Und ja, auch er ist danach noch mal zu spät gekommen. Aber: Er wusste, dass er was falsch gemacht hat und dass wir uns um ihn bemühen. Schüler finden das besser, als zu merken: Ich kann hier machen, was ich will, und niemand interessiert sich für mich. 

WELT: Die Türklinken-Episode steht pars pro toto dafür, wie Sie an der Bergius-Schule auf klassische Tugenden – Disziplin, Frontalunterricht, viel Üben – gesetzt haben. Der Erfolg, gemessen in Anmeldungszahlen, Schülerzensuren, gibt Ihnen recht. Wenn es so einfach ist – warum machen es nicht alle Schulen so? 

Rudolph: Es mögen einfache Ideen sein, aber ihre Umsetzung ist arbeitsintensiv. Für den Schulleiter, weil er das Kollegium motivieren, mitnehmen muss, sodass keiner sagt: Ach, ich bin aber ganz entspannt, was Zuspätkommen angeht. Für das Sekretariat, das etwa Schwänzen ganz genau dokumentieren muss. Und für die Lehrer. Denn: Unterricht machen und gleichzeitig erziehen verlangt ganz viel von ihnen ab. Sie müssen immer präsent sein, wirklich immer einschreiten, wenn etwas schiefläuft, und umgekehrt auch immer positive Zuwendung leisten, wenn es etwas gut läuft. Es ist leichter, zu sagen: Ich lasse die Schüler ihren Kram allein machen, im Team oder im „freien Lernen“. Aber im Kern bedeutet Schule: unterrichten, beurteilen, erziehen und beaufsichtigen. Das hat auch etwas mit Leistung zu tun. Der Leistungsgedanke aber ist abgeschafft. 

WELT: Wie meinen Sie das? 

Rudolph: Ich hatte ein Schlüsselerlebnis mit der Berliner Schulinspektion 2012, als Rot-Schwarz regierte. Die Damen und Herren waren immer hoch irritiert, wie leise es in unserer Schule war, und überhaupt hat die all das gestört: Das Wertlegen auf Pünktlichkeit, Wiederholen und Üben, das alles galt als veraltet. Wir bekamen schlechten Bewertungen. Nicht einmal die wirklich überdurchschnittliche Leistung unserer sehr durchmischten Schülerschaft war in den Berichten als Stärke unserer Schule gelistet worden. Dabei haben unsere Schüler und Lehrer jeden Tag hart gearbeitet für diese tollen Ergebnisse, darauf waren wir sehr stolz. Als wir die Schulinspektion dann einmal fragten: Warum haben Sie Schülerleistungsdaten nicht als Stärke unserer Schule in Ihren Bericht geschrieben, war die Antwort eines Inspektors: „Das ist egal.“ Dann haben wir beschlossen: Dann ist das, was diese Leute sagen, uns auch egal. 

WELT: Woran haben Sie sich stattdess
en orientiert? 

Rudolph: Wir wurden eine Zeit lang von einem pensionierten Unternehmensberater ehrenamtlich beraten. Der hat eine sehr interessante Sicht eingebracht, die Unternehmersicht eben: Man steckt Ressourcen in etwas hinein und erwartet, dass ein Mehrwert rauskommt. 

WELT: Für die Schule übersetzt … 

Rudolph: … heißt das einerseits, sich zu fragen: Wie effizient nutzen wir unsere Zeit? Jede Minute, die ein Lehrer nicht mit Schülern verbringt, sondern an Palaver-Konzepten und Evaluationen arbeitet, ist eigentlich verschwendet. Die relevanten Daten liegen automatisch vor: Ob eine Schule mehr Anmeldungen als Plätze hat, Fehltage, Noten. Und andererseits: Was müssen wir für die Gesellschaft leisten – wofür bilden wir denn die Schüler aus? Haben wir denen, die uns verlassen, das notwendige Rüstzeug mitgegeben? Was sagen die Firmen, die unsere Schüler einstellen? 

WELT: Was sagen sie? 

Rudolph: Wer sich mit unserem Friedrich-Bergius-Briefkopf beworben hat, wurde uns aus den Händen gerissen. Es hatte sich rumgesprochen, dass unsere Schüler was gelernt haben, zuverlässig sind, sich gesellschaftlich einfügen können. 

WELT: Was heißt „gesellschaftlich einfügen“? 

Rudolph: Dass, wenn ich zum Beispiel als Handwerker zu einer alten Dame in die Wohnung komme, um einen Wasserhahn anzuschrauben, nicht sage: „F… dich“, wenn sie vielleicht etwas nervt. So was kommt ja vor im Leben. Und dass ich stattdessen geduldig bleibe und sage: „Ja, wir machen das, ich fege das noch weg, kein Problem.“ Dieses Miteinander-Klarkommen, egal in welcher Situation, das ist unverzichtbar, und man lernt es am besten in der Schule. 

WELT: Warum? 

Rudolph: Als einzige Institution nach den Eltern hat sie einen verfassungsmäßigen Erziehungsauftrag. In einem gewissen Umfang, wenn es um Grundwissen, um grundlegendes gutes Benehmen in der Gesellschaft geht, kann Schule den auch gut erfüllen. Vergehen, im schlimmsten Fall Gewalt, können sofort und für alle sichtbar bestraft werden. Was passiert zurzeit außerhalb der Schule? Einer verprügelt einen, es dauert ein paar Monate, und das Verfahren wird wegen Geringfügigkeit eingestellt.

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