Die schlechten PISA-Ergebnisse für Deutschland sitzen tief. Was kann man vom Ausland lernen? Oft lohnt sich der Blick nicht nur auf die Länder, die im PISA-Ranking ganz oben stehen, sondern auch auf die, die sich über einen längeren Zeitraum steigern konnten. Zum Beispiel Großbritannien: Auch wenn PISA 2022 den steilen PISA-Aufstieg vorerst gestoppt hat, haben sich von 2009 bis 2018 dort die PISA-Ergebnisse in Mathematik und Lesen deutlich verbessert. Gleichzeitig ist die Abhängigkeit des Lernerfolgs von der sozialen Herkunft gesunken. Welche Weichenstellungen waren für die Entwicklung verantwortlich? Das Schulportal sprach darüber mit Nick Gibb, Politiker der Conservative Party. Er war elf Jahre lang Staatssekretär im Bildungsministerium, bis er im November 2023 von seinem Amt zurücktrat. Im Interview erläutert er die Reformen, die er im englischen Schulsystem mit auf den Weg gebracht hat.
Schulportal: Von 2009 bis 2018 haben sich die PISA-Ergebnisse Großbritanniens in den Bereichen Mathematik und Lesen verbessert. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für diese Verbesserungen und wie beurteilen Sie die jüngsten Ergebnisse in PISA 2022?
Gibb: Auch die jüngsten PISA-Ergebnisse in Mathematik zeigen, dass wir uns von Platz 17 auf Platz 11 verbessert haben, obwohl die Punktzahl wie in fast allen Ländern gesunken ist. Deshalb werden die Ergebnisse von PISA 2022 hier als Erfolg gewertet. Und ich glaube, die Verbesserung liegt an den Reformen, die wir seit 2010 durchgeführt haben. Neben grundlegenden Veränderungen in der Art und Weise, wie Lesen und Mathematik unterrichtet werden, haben wir einen Lehrplan eingeführt, der das Fachwissen in den Vordergrund stellt. Der neue Lehrplan löste den kompetenzorientierten Lehrplan ab, der weniger auf Fachwissen ausgerichtet war und in England verwendet wurde, bevor die Conservative Party 2010 die Regierung übernahm. Ich denke, dass wir jetzt, 13 Jahre später, beginnen, die Früchte dieser Reformen zu ernten. Die anderen Nationen des Vereinigten Königreichs, wie Schottland und Wales, haben einen anderen Weg eingeschlagen und kompetenzorientierte Lehrpläne eingeführt. Der Abstand zwischen England und dem Rest des Vereinigten Königreichs in PISA vergrößerte sich, wobei England deutlich vorn liegt.
Was waren Ihre Argumente für die Einführung eines an Fachwissen ausgerichteten Lehrplans?
Gibb: Als wir in der Opposition waren, habe ich viele Schulen besucht, um zu verstehen, was die Ursache für den Rückgang der Schülerleistungen war. Ich habe dazu auch viel gelesen, unter anderem das Buch des Amerikaners E.D. Hirsch mit dem Titel „The Schools We Need: And Why We Don‘t Have Them“ (Die Schulen, die wir brauchen: Und warum wir sie nicht haben). Hirsch sagt darin, dass Fachwissen wichtig sei, weil Wissen auf Vorwissen aufbaut. Je mehr Wissen man im Langzeitgedächtnis habe, desto besser könne man sich neues Wissen aneignen. Er beobachtete, dass Kinder aus weniger privilegierten Haushalten in Amerika auch weniger wahrscheinlich dieses Wissen von zu Hause mitbringen. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler aus privilegierteren Familien hätten dieses Wissen, wenn sie in die Schule kommen und könnten daher mehr aufnehmen. Die Kluft zwischen benachteiligten und privilegierten Kindern wurde größer. Natürlich sind auch die sogenannten „21st Century Skills“ wie Kreativität, Problemlösen und kritisches Denken in modernen Volkswirtschaften wie Deutschland oder England absolut entscheidend. Aber diese Kompetenzen können nicht unmittelbar unterrichtet werden. Sie sind Ausdruck von erworbenem Fachwissen. Ein Buch des amerikanischen Psychologen Daniel Willingham mit dem Titel „Why Don‘t Students Like School?“ (Warum mögen Schülerinnen und Schüler die Schule nicht?) hat mich sehr beeinflusst. Er sagt, um gebildet zu sein, braucht man viel Wissen im Langzeitgedächtnis, weil das Arbeitsgedächtnis, also der Teil des Gehirns, der kritisch denkt und Probleme löst, nur ein halbes Dutzend neuer Informationen gleichzeitig aufnehmen kann. Man muss viel Wissen im Langzeitgedächtnis gespeichert haben, um bei komplexeren kognitiven Tätigkeiten darauf zurückgreifen zu können.
Ist Faktenwissen im Zeitalter von Google nicht überholt?
Gibb: Dieses Argument wurden schon in den 1920er-Jahren von Menschen wie John Dewey vorgetragen. Sie sagten, man brauche kein Wissen, weil man alles in einem Lexikon nachschlagen könne. Aber es reicht nicht, Zugang zu Wissen in einem Buch zu haben. Man muss es im Langzeitgedächtnis haben, sodass man Dinge wie das Einmaleins, die Hauptstadt Deutschlands, das ungefähre Verhältnis der Bevölkerung Großbritanniens zur Bevölkerung der USA oder den Gefrierpunkt von Wasser sofort abrufen kann. Es gibt so viel Wissen, das von gebildeten Menschen als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Aber Kinder erwerben dieses Wissen erst durch den Unterricht in der Schule.
Die OECD sagt, dass PISA nicht Fachwissen testet, sondern Kompetenzen. Wie passt das zu der Betonung von Wissen im englischen Lehrplan?
Gibb: Das ist das Faszinierende an PISA. Es ist der Erwerb von Fachwissen, der genau die Fähigkeiten entwickelt, die PISA testet. Die britische Lehrerin Daisy Christodoulou argumentiert in ihrem Buch „Seven Myths About Education“ (Sieben Mythen über Bildung) so: Man kann einem Anfänger nicht die Kompetenzen eines Experten beibringen. Genau das wird aber versucht, wenn man einem 12-Jährigen beibringen will, wie ein Historiker zu denken, und dabei vergisst, dass Expertinnen und Experten 20 Jahre damit verbracht haben, sich das Wissen anzueignen, das sie zu ebensolchen macht. Die Aufgabe von Lehrkräften ist es, dafür zu sorgen, dass Kinder dieses Wissen erwerben. Und dann werden sie auf der Grundlage dieses Fachwissens die entsprechenden Kompetenzen erwerben. In der PISA-Studie 2018 gab es eine Studie zur Finanzbildung, und die Region, die an erster Stelle stand, war Shanghai. In Shanghai wird aber keine Finanzbildung unterrichtet, trotzdem haben sie es an die internationale Spitze geschafft, weil sie natürlich in Mathematik an der Spitze waren. Und so kann man oft die Fähigkeiten, die PISA gerne testet, durch gute Bildung erwerben, statt die Dinge, die PISA testet, direkt zu unterrichten.
Ein parteiübergreifender Ausschuss des britischen Oberhauses hat letzte Woche einen Bericht veröffentlicht, in dem eine Reduzierung des Lehrstoffs in der Sekundarstufe empfohlen wird. Dem Bericht zufolge empfinden Lehrkräfte, dass es zu viel Stoff gibt, den sie abdecken müssen, und dass zu viel Wert auf die Vermittlung einzelner Fakten gelegt wird. Was ist Ihre Reaktion auf diesen Bericht? Gibt es so etwas wie ein Zuviel an Fachwissen?
Gibb: Ich war sehr enttäuscht über den Bericht des Ausschusses. Ich denke, er hat die Evidenz aus den Reformen in England nicht beachtet und die Argumente für einen wissensorientierten Lehrplan grundlegend missverstanden. Das zeigt nur, dass wir weiter dafür werben müssen.
Was hat die Regierung konkret unternommen, um die Mathematikleistungen zu verbessern?
Gibb: Wir waren sehr besorgt über den Rückgang der Mathematikleistungen. Vor 2010 wurde Mathematik in Schulen in England auf sehr merkwürdige Weise unterrichtet. Wir unterrichteten mehrere und sehr komplizierte Algorithmen in der Arithmetik, sowohl für Multiplikation und Division als auch für Addition und Subtraktion. Diese Algorithmen versuchten, den Denkprozess nachzuahmen, den man vielleicht hat, wenn man eine Addition im Kopf ausführt – im Gegensatz zu den effizienten schriftlichen Methoden. Die Idee war, ein Verständnis für Zahlen zu entwickeln, aber für viele Kinder waren die Rechenwege verwirrend. In vielen unserer Schulen lernten sie eine Multiplikationsmethode, und dann wurde ihnen mitten in der Stunde eine alternative Methode vorgestellt, bevor sie die erste gemeistert hatten. Also haben wir den Grundschullehrplan geändert. Wir haben uns PISA angeschaut, um die leistungsstärksten Länder der Welt zu finden – Orte wie Singapur, Shanghai, Südkorea, Japan. Wir hatten ein Austauschprogramm, bei dem unsere Lehrkräfte nach Shanghai reisten, um sich die Unterrichtsmethoden anzuschauen. Und wir haben den Lehrplan von Singapur aus dem Jahr 2007 als Ausgangspunkt für unsere Reformen genommen. Er verfolgt – im Gegensatz zu dem, was wir vorher in England hatten, wo wir einfach durch den Lehrplan gehetzt sind – einen schrittweisen Ansatz im Mathematikunterricht, bei dem sichergestellt wird, dass es für jeden dieser Schritte auch ein wirkliches Verständnis bei den Schülerinnen und Schülern gibt. Wir hatten einige Lehrkräfte aus Shanghai, die nach England kamen und Beispielunterricht gaben. Und man konnte sehen, dass jedes einzelne Kind, vom begabtesten bis zum leistungsschwächsten, die Berechnungen richtig durchführte. Sie verbrachten zum Beispiel eine ganze Stunde damit, Zehnerzahlen zu multiplizieren. Über sogenannte „Maths Hubs“ haben wir dann diese Methoden an Schulen im ganzen Land verbreitet.
Was sind diese „Maths Hubs“?
Gibb: Sie waren ein Weg, um gute Praxis zu verbreiten. Ich erinnere mich an eine Lehrerin, die zunächst sehr skeptisch war, aber als sie sah, wie gut es funktionierte, wurde sie eine absolute Befürworterin. Wir hatten solche Lehrkräfte in etwa 40 Grundschulen im ganzen Land, die dann in anderen Schulen didaktische Spezialistinnen und Spezialisten ausbildeten. Heute wenden etwa 60 Prozent der Grundschulen diese Methode an. Es hat sich zu einer Reform entwickelt, die von den Lehrkräften selbst vorangetrieben wird. Die Lehrkräfte haben erkannt, dass die Methode effektiv ist, den Kindern etwas beizubringen, und haben es an andere Lehrkräfte weitergegeben. Man muss die Herzen und Köpfe der Fachleute gewinnen, die jeden Tag Kinder unterrichten. Viele unserer Lehrkräfte bloggen oder schreiben Fachartikel. Ein ehemaliger Lehrer, Tom Bennett, hat das Konferenzformat namens ResearchEd ins Leben gerufen. Regelmäßig kommen Tausend Lehrkräfte an einem regnerischen Samstag im September in einer Schule irgendwo im Land zusammen, um den ganzen Tag lang Vorträge und Diskussionen von Bildungsfachleuten zu hören. Bennett hat dieses Konferenzformat weltweit verbreitet. Wir haben mit anderen Lehrkräften aus Amerika und Australien gesprochen. Sie sagen, dass es bei ihnen keine solche Debattenkultur unter den Lehrkräften gibt wie bei uns.
Großbritannien ist eines der wenigen Länder, in denen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund der zweiten Generation bessere schulische Leistungen erbringen als diejenigen ohne Migrationshintergrund – trotz weniger günstiger sozioökonomischer Voraussetzungen. Ist das Ihrer Meinung nach auf die Kultur ihrer Herkunftsländer zurückzuführen oder ist es das Ergebnis spezifischer Maßnahmen im Schulsystem?
Gibb: Ich glaube nicht, dass es an einer bestimmten Maßnahme liegt. Wir geben generell viel Geld für Kinder aus benachteiligten Verhältnissen aus. Wir haben eine Zulage eingeführt, nach der die Schulen seit 2010 jährlich etwa 1.000 Pfund bekommen für jedes Kind, das Anspruch auf kostenlose Schulmahlzeiten hat – das ist etwa ein Fünftel der Kinder. Aber natürlich haben nicht alle Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund Anspruch auf kostenlose Schulmahlzeiten. Sie kommen aus allen möglichen sozioökonomischen Verhältnissen. Es gibt einige Studien darüber, warum London im Vergleich zum Rest des Landes eine so massive Verbesserung des Bildungsniveaus erfahren hat. Früher war London, wie jede Großstadt, schlechter als der Rest des Landes. Und jetzt ist es der leistungsstärkste Teil Englands mit einem signifikanten Vorsprung. Einer der Gründe dafür ist die veränderte ethnische Mischung in London. Viele dieser Kinder stammen aus Familien, die auswandern wollten, um ein besseres Leben zu führen. Die Eltern dieser Kinder, auch wenn sie nicht reich sind, legen Wert auf Bildung. In einigen der Länder, aus denen sie kommen, ist Bildung die einzige Möglichkeit zu überleben. Insofern haben diese Kinder, wenn man so will, ein privilegiertes Elternhaus.
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